Kulturhauptstadtjahr 2010 Lesemarathon im Ruhrgebiet

Essen (RP). Sechs Theater des Ruhrgebiets stimmten das Publikum auf das Kulturhauptstadtjahr 2010 ein. Auf allen Bühnen wurde parallel Homers Odyssee vorgelesen – bis in die frühen Morgenstunden. In Bochum trug zum Beispiel Otto Sander vor.

 Otto Sander las in Bochum.

Otto Sander las in Bochum.

Foto: ddp, ddp

Essen (RP). Sechs Theater des Ruhrgebiets stimmten das Publikum auf das Kulturhauptstadtjahr 2010 ein. Auf allen Bühnen wurde parallel Homers Odyssee vorgelesen — bis in die frühen Morgenstunden. In Bochum trug zum Beispiel Otto Sander vor.

Die Theater des Ruhrgebiets sind an diesem Wochenende gründlich in die Irre gegangen: Homers Odyssee, die Beschreibung der langen Heimkehr des Königs Odysseus aus dem Trojanischen Krieg, wurde an den sechs Bühnen der Region vorgelesen — von Schauspielern, Regisseuren, Politikern, Bürgern, die Lust hatten, einige der 12 110 Verse dieses Epos vorzutragen. Diese lange Lesenacht sollte ein Vorgeschmack sein auf das große Odyssee-Projekt während des Kulturhauptstadt-Jahres 2010. Dann werden in den Theatern von Moers, Oberhausen, Mülheim an der Ruhr, Essen, Bochum und Dortmund jeweils Uraufführungen zeitgenössischer Autoren zu erleben sein, die sich mit Homer beschäftigt haben. An diesem Wochenende also zunächst das Original — Reportage von einer Marathonlesung.

Erster Gesang: Bochum, 18 Uhr

Otto Sander betritt die karge Bühne. Er will das Publikum verblüffen und lächelt, wie immer, etwas melancholisch. Vor der Tür wird gerade die 248. Eintrittskarte abgerissen. Dann ist es still im Saal der Kammerspiele. Die Zuhörer erwarten die Worte "Sage mir, Muse", den Beginn der Odyssee. Doch Sander spricht Griechisch. Nach einigen Versen bricht er ab: "Ah, falsches Blatt." Die Lacher sind auf seiner Seite, und das homerische Epos beginnt von Neuem. Allein der Text zählt an diesem Abend, in dieser Nacht. Die optischen Eindrücke wurden reduziert. Auf der Bühne stehen nur Tisch und Stuhl. Ein Scheinwerfer strahlt die Schauspieler an, und die Kunst des Vorlesens wird dem Zuhörer neu bewusst. Da ist Otto Sander, "die Stimme", die so geschmeidig und rau eine rechte Odyssee-Stimmung erzeugt. Wenn er ohne große Verzierungen vorträgt: "Und keine Hoffnung freuet uns mehr", dann ist Weltuntergangs-Stimmung spürbar. Großer Applaus, als Sander nach 40 Minuten den Stuhl für die 28-jährige Schauspielerin Claude de Demo räumt.

Ihr folgt Christoph Pütthoff. Inzwischen sucht Odysseus' Sohn nach seinem Vater, in Ithaka belagern zu viele Freier dessen Frau Penelope. Im Publikum sitzen viele Fans des Ensembles und Liebhaber des Epos. Sie fühlen sich gestört, wenn mit jedem neuen Vorleser auch ein Teil des Publikums wechselt. "Der Fotograf soll nicht so laut Fotos machen", ruft einer in den Saal. Das Durchschnittsalter der ersten 15 Reihen liegt über 50, das der hinteren Reihen unter 30. Manche sind allein, manche mit Freunden und Familien gekommen. Dies ist eine lange Nacht für alle.

Zwischengesang: Essen, 23 Uhr

Odysseus sieht nach vielen Jahren der Irrfahrt seinen Sohn Telemachos wieder. Doch zunächst gibt er sich nicht zu erkennen — so wird das Wiedersehen schmerzlich-schön hinauszögert. Im Grillo-Theater hören etwa 100 Menschen, wie schließlich doch die Freudentränen des Odysseus zu Boden stürzen. Die Zuhörer haben es sich in Sesseln auf der Bühne gemütlich gemacht; einige lesen in eigenen Homer-Ausgaben mit. Das sind vor allem die Älteren — Typ Griechisch-Lehrer. Aber auch Teenager sitzen im Raum. Zwei von ihnen sind für Zwischenmusiken zuständig: Gesang und Schlagzeug zu jeder vollen Stunde. Seitlich ist ein Buffet aufgebaut, wer geschwächt ist zur vorgerückten Stunde, kann sich in den Pausen ein Stärkungssüppchen einverleiben. Gerade liest ein Essener Bürger. Mit sanftem Ruhrpott-Akzent spricht er Hexameter um Hexameter, leicht schwingen die Silben durch den Raum. "Ich schlaf' ständig ein", flüstert eine Frau in einer der hinteren Reihen ihrem Mann ins Ohr. Neben ihr steht ein leeres Glas Rotwein. Beim nächsten Vorleser-Wechsel schlüpft das Paar von der Bühne. Sofort nehmen neue Zuhörer ihre Plätze ein. Auch nach Mitternacht wollen sich einige noch auf die Reise machen mit Odysseus.

Abgesang: Moers, gegen 7 Uhr

Sehr früh am Morgen ist die Welt der Griechen wieder in Ordnung. Im Gewölbe des Moerser Schlosstheaters ist Odysseus heimgekehrt. Der letzte Gesang also nach 14-stündiger Lesung und nach 60 Vorlesenden. Die Schauspielerin Magdalena Artelt trägt die Begegnung mit Laertes vor, dem Vater des Listenreichen. Im zwanzigsten Jahr ist der vielkluge Odysseus zurück und darum fremd geworden seinem Vater. Jetzt verlangt dieser nach einem Erkennungszeichen, und der Sohn gibt es: mit der Narbe, die ihm am Parnaß einst ein Eber schlug. Doch zum endlichen Frieden wird noch die Hilfe der Götter nötig sein — des großen Zeus und der helläugigen Athene. Die letzten Verse dazu erklingen wieder in Griechisch, und der erdige Ton dieser alten Sprache ist es, der die letzten 20 Hörer — die Übriggebliebenen einer langen Reise — von den am Bühnenrand aufgestellten Feldbetten hebt und sie ins Morgengrauen führt.

Und hier ist manchem noch das Wort vom "gleichmachenden Krieg" im Ohr, jener großen Weisheit, mit der die Odyssee endet: Die Opfer sind Täter und die Täter Opfer geworden, weil es am Ende eines jeden Krieges immer nur Verlierer geben kann. Vor 3000 Jahren schon ist dieses tiefe Wissen bei Homer Schrift geworden. Man blinzelt und denkt, wie gut, dass es nun langsam lichter wird.

(RP)
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