Serie: Deutsche Philosophen Leibniz — der universelle Geist

Düsseldorf (RPO). Von der Monade zu Gott: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) gilt als vielseitigster Gelehrter seiner Zeit und war einer der wichtigsten Philosophen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Über sich selbst schrieb er einmal: "Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben."

Düsseldorf (RPO). Von der Monade zu Gott: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646—1716) gilt als vielseitigster Gelehrter seiner Zeit und war einer der wichtigsten Philosophen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Über sich selbst schrieb er einmal: "Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben."

Hätte er dreihundert Jahre später gelebt — also heute —, so würde er vermutlich Wikipedia gründen und dieses Internet-Lexikon ganz allein bestreiten, weiterhin würde er Papst Benedikt XVI., Angela Merkel, den Hartmannbund der Ärzte und die Sozialkassen beraten und nebenbei ein Max-Planck-Institut leiten, er würde den mitdenkenden Taschenrechner entwerfen sowie eine Jura-Professur in Leipzig und eine Philosophie-Professur in Tübingen innehaben. Selbstverständlich wäre er auch ein hohes Tier in der Kernforschungsanlage Jülich. Ganz zu schweigen von seinem Nebenamt des gefragten Fachmannes für Unterseeboote. In Stockholm wüsste keiner, in welcher Disziplin man ihm den Nobelpreis verleihen solle.

Zu viele Jobs auf einmal? Unser heutiger Großdenker hat sie — auf seine Zeit übertragen — tatsächlich alle ausgeübt. Gottfried Wilhelm Leibniz lebt von 1646 bis 1716, er ist der idealische Fall des Universalgelehrten, der rastlos von Fach zu Fach eilt und sich trotzdem samt und sonders faszinierend gut und tiefgründig auskennt. Seine Eltern — der Vater war Professor, die Mutter Tochter eines solchen — leben ihm die akademische Vielseitigkeit zwischen Jurisprudenz und Philosophie vor.

Bei den Leibnizens wird viel geredet und gestritten; die Debatte als wirkungssichere Zentrifuge, bei der die jeweils beste aller möglichen Ideen übrig bleibt, bekommt er vorgelebt. Der kleine Gottfried erobert als Knirps die väterliche Bibliothek, bringt sich die alten Sprachen Latein und Griechisch bei, er beginnt zu staunen und auch zu verstehen. Heutzutage würde man einem so aufgeweckten, ja hyperaktiven Kerlchen zur Dämpfung seines Bildungshungers vielleicht Ritalin verpassen.

Der Blitz schlägt ein

Irgendwann schlägt in Leibniz der Blitz ein. Längst studiert er — als 15-Jähriger — an der Uni seiner Heimatstadt Leipzig, wechselt dann nach Jena. Es ist offenkundig ein Studium generale, das ihn mit Kompetenz vollstopft, aber auch in den Fugen zwischen dem Wissen die Frage wachsen lässt, ob alle Dinge des hohen wie flachen Lebens und Erlebens nicht von einer zentralen Macht koordiniert, von einer geheimen Idee im Innersten verbunden seien. Wer ist, fragt Leibniz, der "Architekt der Maschine des Universums"?

Mehr noch lodert Leibniz' unstillbare (Neu-)Gier, der Substanz als solcher nahe zu kommen. Da bauen sich gewaltige Vordenker auf, an die sich der Denker jedoch, wie es seine Art war, mitnichten ehrfürchtig anlehnt. Früh schon schreibt er, dass er zur Sicht auf die Dinge am liebsten ein Mikroskop verwende; bekannt wird sein Bild vom Teich, in dem man vor lauter Gewimmel die Fische nicht mehr unterscheiden könne. Aber mit dem Mikroskop meint er kein echtes, sondern den Scharfblick des Denkens. Bei diesen Betrachtungen glaubt er zu bemerken, dass alles — vom Baumstamm bis zum Menschen — aus einer Summe jeweils individueller Elemente bestehe. Um diese Unverwechselbarkeit zu betonen, nennt er sie "Krafteinheiten" oder — als Terminus legendär geworden — "Monaden".

Jede Monade ist vorzüglich ausgestattet: Sie besitzt weder Gestalt noch Ausdehnung, sie ist folglich unteilbar. Heute würde man sagen: unkaputtbar. Vor allem trennt Leibniz die Monaden nicht nach geistiger oder materieller Zuständigkeit, wie es sein Lieblingsfeind René Descartes mit den Elementen tat; auch die Seele ist für Leibniz nichts anderes als eine Monade. Leibniz' Monaden scheinen omnipräsent und omnipotent — scheinbar eigenschaftslos, doch in Wirklichkeit sehr aktiv, bindungswillig, unbewusst vielseitig.

Hübsch ist Leibniz' Idee, dass jede Monade "fensterlos" sei. Das scheint zunächst abwegig, da sich Monaden doch verbinden, also füreinander Augen haben müssen. Diesen Einwand kontert Leibniz einfallsreich: Jede Monade sei von Natur aus so urtümlich intelligent, dass sie den Zustand jeder anderen Monade kenne. So komme es zu Anordnungen, zu Verbänden, die Leibniz "Aggregate" nennt. Was wie ein Körper aussieht, ist bloß ein Aggregat vieler Monaden.

Natürlich gibt es auch bei den Monaden solche und solche: Um die "Zentralmonaden" gruppieren sich — den Planeten und ihren Trabanten ähnlich — andere Monaden, viele sind nur nackt, manche tragen Bewusstsein mit sich herum. Mineralien und Pflanzen sind sozusagen schlafende Monaden bar bewusster Vorstellung; die Seele der Tiere ist schon mit Gedächtnis und Sensibilität ausgestattet; der Mensch kann sich alles deutlich und hell vorstellen. So befinden sich die immer neuen Zustände auf dem Weg zur Vervollkommnung. Diese Zustände nennt Leibniz "Perzeptionen".

Die Mutter aller Fragen auch hier: Wer hat die Monaden erschaffen, wer steuert sie, wer bringt sie in Kontakt? Die Urmonade in Leibniz' System ist Gott, der alle Substanzen so gepolt hat, dass sie bei jeweils autonomer Entwicklung doch in genauer Übereinstimmung mit allen anderen stehen. Dieses von den Monaden schlafwandlerisch betretene Koordinatensystem nennt Leibniz die "prästabilierte Harmonie", an der Gott 100-prozentigen Anteil habe. Ja, Gott habe "alle Monaden programmiert", sagt der Leibniz-Kenner Rainer Specht.

Um die "prästabilierte Harmonie" seinen Zeitgenossen zu erklären, die nicht so fix sind wie er, denkt sich Leibniz das Uhren-Gleichnis aus, nimmt zwei Pendeluhren und fragt: Wie bekommt man die Pendel synchronisiert? Man könne sie durch eine Strebe verbinden oder könne sie immer wieder neu justieren. Oder man überlasse sie — optimaler Fall — einer perfekt arrangierten Eigengesetzlichkeit, der "prästabilierten Harmonie" zwischen Leib und Seele.

Ein logisches Weltbild

Ein kühnes, doch logisches Welt- und Gottesbild. Das attestiert zu bekommen freut Leibniz schon zu Lebzeiten, denn er sucht ja die Fraktionen philosophisch zu einigen und zu versöhnen: die Logik mit der Physik, die Mathematik mit der Metaphysik. Nicht grundlos erfindet Leibniz hochkomplexe Verfahren der Mathematik, und er baut auch den Prototyp des modernen Taschenrechners. Und wie er so durch die Welt eilt, Akademien gründet, das Welfenhaus Hannover berät, Bibliotheken ordnet, mit anderen Forschern diskutiert, als Historiograf wirkt und dem Sonnenkönig Ludwig XIV. Kriegspläne auszureden sucht, erblickt dieser "monadisch einsame" Leibniz (so der Philosoph Gerhard Krüger) das nächste Problem, das es zu lösen gilt. Wenn doch der allwissende, vollkommene Gott die Monaden und ihre Beziehungen weitsichtig beaufsichtige und liebend bündele, wie könne dann in einer dermaßen freundlichen, tatsächlich fast klinisch anmutenden Welt das Übel mit all seinen unangenehmen Facetten vorkommen?

Diese Frage löst Leibniz im Jahr 1710, also spät in seinem Leben eines "könnenssüchtigen Sonnenkönigs des Denkens" (Peter Sloterdijk über Leibniz). Jetzt geht es für Leibniz, den Metaphysiker der Logik und Logiker der Metaphysik, ans Eingemachte — also das steinalte Problem, wie ein Gott zu rechtfertigen sei oder sich selbst rechtfertige angesichts des von ihm zugelassenen Übels in der Welt. Die "Theodizee" Gottes ist ein Kernpunkt jeglicher Religionsphilosophie, da sie entweder die Existenz eines Gottes und seines Ratschlusses anerkennt oder sie ebendarum leugnet. Was also, fragt nun auch Leibniz, ist von einer Welt zu halten, in der so viel Unheil wütet?

Leibniz spricht in seinen "Essais de théodicée" trotzdem optimistisch von der "besten aller möglichen Welten", die Gott, das vollkommene Wesen, hervorgebracht habe; eine Welt von minderem Niveau sei Gottes nicht würdig. Trotzdem ist die Formulierung mit ihrer unverhohlenen Einschränkung (über die sich Voltaire lustig machte) Absicht, der Abstand zwischen Gott und allen Wesen liege gerade in ihrem von Gott eingerichteten Mangel an Vollkommenheit. So dürfen, ja müssen sich diverse Übel einschleichen: Sie sind metaphysischer Art (als einkomponierte Ungöttlichkeit der Menschen), physischer Art (Schmerzen, Leid) oder moralischer Art (durch die Sünde).

Die Welt könnte anders sein

Leibniz lehrt: Wenn ein Mensch sündigt, so ist sich Gott dieser Sünde bereits vorher bewusst. Trotzdem lässt er sie zu. Warum, wozu? Wilhelm Windelband interpretiert seinen Leibniz hier einleuchtend: "Die Welt könnte anders sein; dass sie so ist, wie sie ist, verdankt sie der Auswahl, die Gott zwischen den vielen Möglichkeiten getroffen hat." Man könnte gewiss sagen: Gottes Votum für das Übel als unvermeidliches Beiwerk der menschlichen Freiheit war ein Votum für das kleinste aller Übel. Andererseits birgt es das charmante Potenzial, dass aus der "besten aller möglichen" vielleicht die "beste aller Welten" werde. Eine Utopie, Leibniz ahnt es. Aber sie scheint ihm die einzige Möglichkeit, Logik und Metaphysik zu vermählen.

Leibniz selbst formuliert diese schneidende These fast warmherzig: "Es genügt also, dieses Vertrauen zu Gott zu haben, dass er alles zum Besten tut und dass denen, die ihn lieben, nichts schaden kann. Die Gründe aber im Einzelnen zu erkennen, die ihn bewogen haben mögen, die Sünden zu dulden, das überschreitet die Grenzen eines endlichen Geistes — vor allem, solange er noch nicht in den Genuss der Anschauung Gottes gelangt ist."

So kann Leibniz sich 1716 in Hannover erschöpft, aber zufrieden von der Welt verabschieden; der geniale Enzyklopädist tut es in dem Gefühl, für den als verteidigungswürdig empfundenen Gott der "beste aller möglichen Anwälte" (Sloterdijk) gewesen zu sein. Viele seiner Kraftakte musste er allein stemmen — als letzter Wiedergänger des universalen Doktor Faust, allerdings mit weit höherem, breiterem, menschenfreundlicherem Ertrag. Dazu ist aus heutiger Sicht der Schul- und Steuerpflichtigen unbedingt der Taschenrechner zu zählen.

(RP)
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