Philosophen-Serie (15) Habermas — der Denker im Dialog
(RP). Er zählt zu den einflussreichsten Denkern der Gegenwart: der in 1929 in Düsseldorf geborene Jürgen Habermas, der viele Jahre in Frankfurt lehrte. Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht die Theorie des Kommunikativen Handelns – der zufolge kann Wirklichkeit nur in Abhängigkeit von Sprache existieren.
(RP). Er zählt zu den einflussreichsten Denkern der Gegenwart: der in 1929 in Düsseldorf geborene Jürgen Habermas, der viele Jahre in Frankfurt lehrte. Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht die Theorie des Kommunikativen Handelns — der zufolge kann Wirklichkeit nur in Abhängigkeit von Sprache existieren.
Mit jedem Werk eines Philosophen kommt ein neuer Gedanke auf die Welt, eine neue Idee vom Sinn des Lebens. Mit Jürgen Habermas aber betritt auch ein neuer Typus die Bühne des Denkens: Es ist der des öffentlichen Intellektuellen.
Diese Rolle scheint uralt zu sein; bekannt schon in der Antike in den öffentlichen Disputationen der Gelehrten. Neu aber ist nun, dass philosophische Weltaneignung bis ins alltägliche Leben vordringen und hilfreich werden soll zur Bewältigung aktueller Probleme. Und so nimmt Habermas als Redner und Publizist rege teil an der Meinungs- und Willensbildung — unmissverständlich 1968 in den Protesten der Studenten, denen der damalige Marxist Habermas zwar intellektuellen Kraftstoff liefert, die er aber auch angesichts zunehmender Gewaltbereitschaft vor der Gefahr eines "linken Faschismus" warnt.
Habermas hat sich immer wieder Phänomenen und Tendenzen der Gegenwart gestellt und gewidmet, in die Falle des Zeitgeistes ist er nur selten getappt. Denn hinter seiner publizistischen Medienpräsenz steckt nicht so sehr die Eitelkeit eines großen Denkers, sondern vielmehr seine Leidenschaft für den öffentlichen Gebrauch der Vernunft.
Letztlich lasse sich nur dadurch die Frage, wozu Philosophie überhaupt notwendig sei, positiv beantworten. In einem Aufsatz von 1971 hat sich Habermas selbstkritisch nach Sinn und Zweck seines intellektuellen Trachtens befragt. Und dabei ist er die Ahnengalerie deutscher Philosophen des 20. Jahrhunderts abgeschritten — mit ernüchternden Urteilen: Jaspers? Sein Werk ist spurenlos geblieben; Bloch, bestenfalls noch ein Fall für Theologen; Adorno habe ein chaotisches Gelände hinterlassen; und Heideggers 80. Geburtstag ist kaum mehr als ein privates Ereignis.
Mit seiner Kritik an dem Vordenker Heidegger beginnt erst sein publizistisches Wirken: Er ist noch keine 30 Jahre alt und Philosophie-Student bei Erich Rothacker in Bonn, da veröffentlicht er 1953 eine Rezension zu Heideggers frühen Vorlesungen. Unkommentiert hatte man diese nachgedruckt und so auch Formulierungen wie die "innere Wahrheit und Größe der NS-Bewegung" veröffentlicht. Habermas rebelliert, weil er darin den Versuch zu erkennen glaubt, das Nazi-Regime und den Holocaust wie eine "schicksalhafte Irre" darzustellen.
Die Empörung des Studenten Habermas unterscheidet sich kaum von seiner vehementen Kritik in jenem großen Disput, den der Professor Habermas Mitte der 80er Jahre mit Ernst Nolte führen wird und der unter dem Etikett "Historikerstreit" in die Chronik der Bundesrepublik eingegangen ist. Nolte, seinerzeit Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität in Berlin, hatte die Singularität des Holocausts in Frage gestellt und den Nationalsozialismus gar als säkulare Gegenbewegung zum Bolschewismus interpretiert. Vernichtungslager der Sowjets werden aus dieser Perspektive zu den eigentlichen und ursprünglichen Vorläufern von Auschwitz. Das kann nicht unerwidert stehen bleiben, weil in einem "geschichtslosen Land" derjenige die Zukunft gewinnt, der nach Habermas die Vergangenheit deutet und die Erinnerungen mit Begriffen auszufüllen vermag. Was Noltes Darlegungen für den Frankfurter Philosophen demnach sind? Ein verharmlosender Geschichtsrevisionismus jener Nazi-Verbrechen, die als Zivilisationsbruch einzigartig und unvergleichlich bleiben müssen, damit die Erinnerung daran nie verblassen kann.
Wer diesen publizistisch ausgetragenen Disput nachliest und darin die geistesgeschichtliche Bedeutung für das deutsche Selbstverständnis erkennt, muss erschrecken über die Banalität jener Kampagne, mit der Habermas 2006 konfrontiert wurde: In der so genannten Zettelaffäre soll Habermas — nach einer ironisch gemeinten Auskunft seiner Ehefrau in privater Runde — ein Schreiben zerkaut und geschluckt haben, in dem er sich als Hitlerjunge angeblich enthusiastisch über den Endsieg der Nazis äußert.
Die Zettelaffäre ist im Vergleich zum Historikerstreit zwei Jahrzehnte zuvor ein gesellschaftlicher Offenbarungseid: An die Stelle einer öffentlich wirksamen Aufklärung ist ein kurzlebig mediales Getöse getreten, das bestenfalls der Unterhaltung dient. Die "Zettelaffäre" dürfte Habermas persönlich kaum getroffen haben; er wird darin weit mehr die Beschädigung seiner permanenten Diskurspflege gesehen haben.
Das öffentliche Engagement ist für ihn zentral. Aber es muss doch verwundern bei einem Mann, der mit seiner angeborenen Gaumenspalte in seiner Artikulation behindert ist. Wer Habermas erstmals sprechen hört, wird sich schon sehr konzentrieren müssen, seine Worte zu verstehen.
Dieser Sprachfehler hat den 1929 in Düsseldorf geborenen und im Oberbergischen aufgewachsenen Jungen manche Diskriminierung erfahren lassen. Aber er hat ihn zugleich früh sensibel gemacht für die Bedeutung des Sprechens und der Sprache. In ihr, so Habermas, vollzieht sich die Ich-Entwicklung. So wird sein Sprachfehler einer jener Ausgangspunkte, von denen der Weg in die Mitte seines Werks führt: zur Theorie des kommunikativen Handelns von 1981.
Danach sind Diskurse nichts anderes als eine Handlung in Kommunikation; sie sind — ganz konkret verstanden — eine Argumentations-Praxis. Wirklichkeit muss daher stets in Abhängigkeit von Sprache existieren. Eine Kommunikation, etwa in der Form eines Dialogs, kann indes nur dann "erfolgreich" im Sinne einer Verständigung sein, wenn dieser Akt auch herrschaftsfrei geführt wird. Die Maxime klingt zwar einsichtig. Unsere alltäglichen Erfahrungen von Kommunikation aber machen deutlich, welche umfassende Arbeit der Gesellschaft damit aufgetragen wird. Die Grundlage des kommunikativen Handelns ist eine Utopie.
In der vereinfachenden Zusammenfassung klingt das klarer als in der "gefürchteten" Fachsprache des Philosophen. Selbst seine Studenten sollen des öfteren gestöhnt und in der Vorlesung den Wunsch geäußert haben, ob er nicht etwas unkomplizierter sprechen könne. Habermas versprach Besserung, worauf ein anderer Teil der Studenten lauthals buhte. Ihnen wiederum versicherte der Philosoph, dass er damit höchstwahrscheinlich scheitern werde.
Seine sprachsoziologischen Theorien sind das Unterfutter seines Denkens, das zwar keine Spezialisierungen kennt, das aber auf der Suche bleibt — und bleiben muss. Weil die westliche Moderne sich im Verständnis von Habermas mehr und mehr in Selbstbezüglichkeiten zu erschöpfen droht. Ist am Ende das Projekt der Moderne auch nur eine Epoche unter vielen anderen? Und erleben wir gerade ihre Ausläufer und zugleich den Beginn eines post-säkularen Zeitalters?
Habermas liefert darauf keine letztgültigen Antworten. Aber er beobachtet die Zeit und entdeckt vielerorts Steuerungsprobleme: So hat uns die Globalisierung vernetzte Märkte mit enormer Kapitalmobilität beschert. Sie greifen damit nachhaltig in "das öffentliche Leben der Nationalstaaten ein, ohne an deren Legitimationsketten angeschlossen zu sein".
Ein weiteres Symptom unserer entgrenzten Zeit ist für Habermas die Gentechnik. Nach seinem Verständnis ist die Zufälligkeit der genetischen Ausstattung überhaupt die Voraussetzung einer Identitätsbildung; sie kennzeichnet die Unantastbarkeit der Person, die Würde des Menschen. Doch mit dem gentechnischen Eingriff muss der Mensch zum Ding werden, zu etwas Fabriziertem. Gerade in solchen Entwicklungen tritt eine Wissenschaftsgläubigkeit zu Tage, die Kausalketten gelten lässt, aber die Sinnhaftigkeit sozialer Handlungsmotive weitgehend ignoriert.
Die postmoderne Welt ist eine durch und durch entzauberte; ein kalter Wind weht über ihr Terrain. Da besinnt sich Habermas auf die Möglichkeiten einer ethischen Selbstfindung. Die aber kann die Philosophie kaum leisten. Ihr Impulsgeber ist die Religion — oder, im Sinne des Diskurstheoretikers: die religiöse Sprache. Sein berühmter Disput mit Kardinal Ratzinger 2004 war so gesehen auch ein Akt des Kommunikativen Handelns, der Lernprozesse in Gang hält.
Die Wirkung des Denkens ist nicht zu messen. Dennoch ist anzunehmen, dass Jürgen Habermas — einst Inhaber etlicher Philsophie-Lehrstühle und Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialwissenschaften in Starnberg — zu den wohl einflussreichsten Denkern der Gegenwart zählt.
Als weltweit meistzitierter Philosoph hat der 80-Jährige die Öffentlichkeit, die er suchte, gefunden. Habermas — eine intellektuelle "Weltmacht", wie unlängst die "Zeit" titelte? Allenfalls eine äußerst ungewöhnliche, die ihre Kraft im Denken und ihre Wirkung im Dialog entfaltet.