„Future Library“ Die schlafenden Bücher von Oslo

Oslo · In Norwegen entsteht eine Zeitkapsel: die „Future Library“. Sie wird aus hundert eigens verfassten Büchern berühmter Autoren aus aller Welt bestehen, die bis zum Jahr 2114 geheim bleiben. Dieses Jahr übergibt eine deutsche Schriftstellerin ihren Beitrag.

Die „Future Library“ in der Deichmanske Bibliothek in Oslo.

Die „Future Library“ in der Deichmanske Bibliothek in Oslo.

Foto: Einar Aslaksen

Es gibt einen Raum in der Stadtbibliothek von Oslo, in dem Bücher liegen, die erst in 91 Jahren gelesen werden. Genau genommen sind es noch gar keine Bücher, sondern lediglich Manuskripte, denn das Papier für die Buchseiten wächst derzeit noch in der Nordmarka heran, einem großen Waldgebiet in der Nähe von Oslo. Eintausend Bäume wurden dort im Jahr 2014 gepflanzt, die hundert Jahre später das Papier für eine Anthologie aus hundert Büchern liefern sollen.

Was dort in Norwegen entsteht, nennt sich „Future Library“, die Bibliothek der Zukunft: Einhundert Bücher geschrieben von einhundert verschiedenen Schriftstellern über einen Zeitraum von einhundert Jahren – geheim gehalten bis zum Jahr 2114, wenn diese Bücher gedruckt werden. Sie ist eine Bibliothek und zugleich ein Stück Konzeptkunst, das uns über Zeit und Verantwortung nachdenken lässt.

Hinter dem Projekt steckt die schottische Künstlerin Katie Paterson. In all ihren Werken setzt sie sich mit der Rolle des Menschen in seiner natürlichen Umgebung auseinander; sie befasst sich mit Ökologie und Geologie und entwickelt Projekte mit einem forschungsbasierten Ansatz. „Der Kern der ‚Future Library‘ liegt in der Natur und der Umwelt. Es geht um Ökologie und die Vernetzung der Dinge. Es geht um die, die jetzt leben, und die, die dann leben werden“, sagt Paterson zu dem Projekt. Hundert Jahre seien in kosmischen Begriffen unbedeutend, doch für uns Menschen sei es ein langer Zeitraum: Das Jahr 2114 liegt für fast alle außerhalb ihrer eigenen Lebensdauer, wirkt jedoch greifbar genug, um die Zeitspanne zu verstehen und zu relativieren.

 Eine der tausend gepflanzen Fichten in der Nordmarka, aus denen einmal das Papier für die Bücher hergestellt wird.

Eine der tausend gepflanzen Fichten in der Nordmarka, aus denen einmal das Papier für die Bücher hergestellt wird.

Foto: Bjørvika Utvikling by Kristin von Hirsch

Bis zum Abschluss des Projekts wird nun jedes Jahr ein bekannter Autor oder eine bekannte Autorin ausgewählt, die ein Originalwerk beisteuern können. Acht Werke sind es bisher, im Frühling werden es neun sein. Außer denen, die sie geschrieben haben, kennt niemand den Inhalt der Werke, weder Lektoren noch Korrekturleser. Auch darf keine Kopie der Manuskripte aufbewahrt werden.

Es sei hart gewesen, das Dokument von seinem Computer zu löschen, sagt etwa der Autor David Mitchell, der 2016 eine Novelle mit dem Titel „From Me Flows What You Call Time“ („Von mir fließt, was du Zeit nennst“) an das Projekt übergab. Wie ist es für einen Schriftsteller, ein Buch in dem Wissen zu schreiben, dass man dessen Veröffentlichung nicht erleben wird? „Man ist völlig frei davon, wie es aufgenommen wird“, schwärmt Mitchell gegenüber der Zeitschrift „Wired“. „Es ist auf eine gewisse Art unverfälscht.“ Zudem sei die „Future Library“ ein Beweis des Vertrauens darauf, dass die Menschen 2114 noch lesen werden, dass es überhaupt noch Bücher und Bäume geben wird.

„Auf eine verrückte Art und Weise ist dieses Werk ungefährdeter als all meine anderen Bücher“, sagt Mitchell weiter. Denn schließlich könne es sein, dass es in hundert Jahren keine Ausgabe mehr von seinem bekanntesten Buch „Der Wolkenatlas“ gebe – während die Novelle erst dann ihre erste Leserschaft findet.

„Wie seltsam es ist, darüber nachzudenken, dass meine Stimme – die dann schon eine lange Zeit geschwiegen hat – nach hundert Jahren plötzlich wiedererweckt wird“, bemerkt auch die weltberühmte kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood. Sie war die erste, die der „Future Library“ ein Manuskript beisteuerte, es trägt den Namen „Scribbler Moon“ (etwa: „Kritzelmond“). Atwood für das Projekt zu gewinnen, war ein Traum von Paterson, der schnell wahr wurde: Die Kanadierin war direkt begeistert von dem Konzept. „Katie Patersons Kunst ist eine Meditation über die Natur der Zeit“, sagt sie und vergleicht das Projekt mit Dornröschen, der Märchenprinzessin, die ebenfalls hundert Jahre lang schlief, bis sie dank eines Kusses wieder erwachte.

 Margaret Atwood überreichte ihr Manuskript im Jahr 2015.

Margaret Atwood überreichte ihr Manuskript im Jahr 2015.

Foto: Bjørvika Utvikling by Kristin von Hirsch

„Ich stelle mir die Jahresringe der Bäume als Kapitel eines Buches vor“, erläutert Paterson. „Die ungeschriebenen Wörter, die sich Jahr für Jahr materialisieren.“ Ihr gefalle, wie Besucher des Waldes das langsame Wachstum der Bäume miterleben könnten und die Ideen der Schriftsteller wie eine unsichtbare Energie darin spürbar werden.

„Bücher beinhalten immer eine Kommunikation über Raum und Zeit hinweg“, sagt Margaret Atwood, „hier handelt es sich bloß um einen längeren Zeitraum.“ Daher rühre auch der Titel ihres Buches, erklärt sie bei der Übergabezeremonie; sie wollte die Idee des Schreibens und die Idee der Zeit darin vereinen.

Jene Übergabezeremonie ist das Herz des Projekts. Jedes Jahr im Frühling gibt es einen Spaziergang in die Nordmarka, wo der Autor oder die Autorin das eigene Werk offiziell übergibt und eine Lesung hält. Danach findet eine Frage-Antwort-Runde in der Deichmanske Bibliothek in Oslo statt. Es ist die größte öffentliche Bibliothek des Landes, das neue Hauptgebäude wurde erst im Juni 2020 eröffnet, in direkter Nachbarschaft zum neuen Opernhaus und dem neuen Munch-Museum. Der Aufbewahrungsort für die Manuskripte der „Future Library“ wurde in die Planung des Neubaus integriert.

 Katie Paterson (vorne links) und Schriftstellerin Han Kang bei der Übergabezeremonie im Wald.

Katie Paterson (vorne links) und Schriftstellerin Han Kang bei der Übergabezeremonie im Wald.

Foto: Bjørvika Utvikling by Kristin von Hirsch

Es ist ein kleiner Raum, dessen Eingang zwischen zwei Buchregalen liegt – und bevor man ihn sehen kann, riecht man ihn bereits. Der Duft nach Fichtenholz lockt Neugierige an, die sich vor einem organisch geformten Eingang wiederfinden. Vor dem Eingang steht ein Schild, auf dem darum gebeten wird, die Schuhe auszuziehen. Auf Socken betritt man also den „Silent Room“ („Stiller Raum“), der komplett aus Holz gefertigt ist; dem Holz der Bäume, die gefällt wurden, um Platz für die tausend neuen Fichten zu machen. Es ist ein intimer, meditativer Ort: Selbst wer bislang noch nichts von dem Projekt wusste, spürt, gerade Teil von etwas Besonderem zu sein.

Durch die einzigartige Bauweise bekommt man den Eindruck, direkt ins Innere eines Baumes getreten zu sein. Holzschichten ziehen sich wie Jahresringe die Wände entlang, es sind – natürlich – insgesamt hundert Schichten vom Boden bis zur Decke. Darin die eigentliche „Future Library“: Eingelassen in das Holz sind leuchtende Schubladen aus Glas, in denen die Manuskripte liegen. Die Namen der Autoren und Autorinnen wurden in das Glas eingraviert, das Lichtsystem eigens so entwickelt, dass es ein Jahrhundert überdauert. Und die Manuskripte sind auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Im „Silent Room“ in der Deichman Bibliothek werden die Manuskripte aufbewahrt, bis sie im Jahr 2114 gedruckt werden.

Im „Silent Room“ in der Deichman Bibliothek werden die Manuskripte aufbewahrt, bis sie im Jahr 2114 gedruckt werden.

Foto: Einar Aslaksen

Neben den Werken von Margaret Atwood und David Mitchell finden sich hier bereits Beiträge des isländischen Autoren Sjón, der türkisch-britischen Autorin Elif Shafak, der Südkoreanerin Han Kang, des Norwegers Karl Ove Knausgård, des vietnamesisch-US-amerikanischen Lyrikers Ocean Vuong und der simbabwischen Autorin Tsitsi Dangarembga. Dangarembga, die im Oktober 2021 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, nennt die „Future Library“ eines der wichtigsten Projekte, an denen sie je teilgenommen habe.

Im kommenden Juni wird nun das neunte Manuskript in den „Silent Room“ einziehen: Es stammt von der Deutschen Judith Schalansky.

Bekannt ist sie unter anderem für ihren Bildungsroman „Der Hals der Giraffe“, zuletzt erschien 2018 ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“, in dem sie sich dem Verlorenen widmet und auch von verlorengegangenen Natur- und Kunstgegenständen erzählt. „Judith Schalansky ist eine bemerkenswerte Autorin, die einer verschwindenden natürlichen Welt Tribut zollt“, schreibt Katie Paterson in einem Statement zur Wahl von Schalansky.

Die international erfolgreiche Schalansky hebt besonders einen Aspekt des Projekts hervor: Dass es Fichten sind, die für das Projekt angepflanzt wurden – Nutzbäume, die etwa für Bau- und Konstruktionsholz, als Brennholz und zur Papierherstellung verwendet werden. „Mir gefällt, dass diese wenig geachteten Bäume jetzt mit einem Tabu belegt werden“, sagt sie im Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung“. „Man darf sie besuchen und betrachten, aber man darf sie für hundert Jahre nicht fällen, weil sie eine Bestimmung haben.“

Der Titel ihres Manuskripts wird erst im Juni bekanntgegeben, wenn ihr Werk in einem Waldstück bei Oslo offiziell der „Future Library“ übergeben wird. Inmitten der Bäume, die ihre Worte einmal in die Welt tragen werden.

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