Ausstellung in Oberhausen Die Menschen des Jim Rakete

Oberhausen (RP). In Oberhausen sind Prominenten-Portraits des Berliner Fotografen Jim Rakete zu sehen. Die Schau ist keine oberflächliche Star-Parade, sondern ein eindrucksvoller Beweis für die Kraft der Portrait-Fotografie. Am Ende meint man, den Abgebildeten in die Seele geschaut zu haben. Wir zeigen Ihnen eine Auswahl der Bilder.

Ein Kunstwerk zeigt Vorurteile über alle EU-Länder
30 Bilder

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Vielleicht hat Jim Rakete überhaupt nur ein Motiv, die Jugend nämlich, ihr Verwehen und die Klage über ihren Verlust. Da ist dieses schwarzweiße Portrait der 29-jährigen Schauspielerin Jana Pallaske. Die Schärfe liegt auf Stirn, Augen und Nase. An den Rändern des klaren Ovals verschwimmt die Aufnahme; Haare und Hals sind nurmehr Schemen. Es wirkt, als liege Pallaske unter Wasser, als rage das Gesicht für die Dauer eines Atemzuges über die Oberfläche hinaus. Sie sieht älter aus, als sie ist, traurig und müde. Man würde sie gern holen, an sich ziehen, und dieses Bedürfnis zeigt, wie intensiv die Fotoarbeiten von Jim Rakete sind. "Gewebeproben der Seele" nennt er sie. Das trifft es gut.

Mehr als hundert Werke von Jim Rakete zeigt die Ludwiggalerie in Schloss Oberhausen von heute an. "1/8 sec. — Vertraute Fremde" ist eine besondere Schau, denn sie zeigt, dass man durchaus ungewöhnliche Ansichten von tausendfach abgebildeten Schauspielern, Musikern und Politikern wie Iris Berben, Christiane Paul, Herbert Grönemeyer, Jürgen Vogel und Franz Müntefering liefern kann. Raketes auf den ersten Blick altmodisch anmutende Bilder stören den Blick, sie verblüffen geradezu und fesseln den Betrachter, weil sie nicht der gewohnten Ästhetik der Hochglanzmagazine entsprechen.

Wer also das Museum verlässt und im Bus ein Gespräch über Iris Berben belauscht, der wird denken: Seid still, ihr kennt die Frau doch gar nicht, nicht so gut wie ich! Rakete zeigt Iris Berben im Treppenhaus auf den Stufen sitzend, erschöpft, sanft und schön. Nicht so schön wie sonst allerdings, sondern anders schön, neu schön, intim schön. Das ist nicht mehr Rosa Roth oder die Konsulin Buddenbrook oder der Talkshow-Adabei. Sondern eine Nachbarin, die man beim Heimkommen trifft, die womöglich soeben verlassen wurde und der man sagen möchte: "Hallo. Ich lasse Sie verweilen." Und Berben antwortet: "Ja, das ist gut."

Der 58-jährige Jim Rakete gehört zu einer der ersten Generationen, die in der Mitte der 20. Jahrhunderts entstandenen Jugendkultur aufgewachsen ist. Das Erwachsenwerden war ein Kampf um Abgrenzung von den Eltern. Man versuchte in Kunst, Musik, Film und vor allem in der Lebensführung neue Formen der Rebellion zu finden. Rakete, der mit Vornamen eigentlich Günther und als Nachkomme ausgewanderter Hugenotten Raquette mit Nachnamen heißt, probte den Aufstand in Berlin. Er war fasziniert von den Musikern der Zeit, fotografierte Bowie, Hendrix und Jagger. Nach dem Vorbild von Andy Warhol gründete er in Kreuzberg die Agentur "Fabrik", und von dort aus managte er Nina Hagen und die Ärzte. Sein bekanntestes Produkt ist Nena. Er lieferte alles, was sie populär gemacht hat: Kleidung, Plattencover etc. Von 1986 an widmete sich Rakete ausschließlich der Fotografie.

In der Zwischenzeit ist seine Generation im so genannten Establishment angekommen. Ihr Denken ist nicht mehr Gegen-Kultur, sondern der Stand der Dinge, ihre Tagewerk ist keine Störung mehr, sondern Garantie für Reibungslosigkeit. Diese Spannung zwischen Aufbruch und Ankunft interessiert Rakete. Neben Altersgenossen wie Iris Berben, Katja Lange-Müller, Wim Wenders und Klaus Hoffmann zeigt er die nachgeborenen Wilden mit Jana Pallaske, den Bands Silbermond und Juli, Hannah Herzsprung.

So unterschiedlich diese Menschen sind: Rakete erwischt sie in Momenten ähnlich anrührender Eindringlichkeit. Stets liegt die Schärfe auf den Augen, die von einem gemeinsamen Wollen oder Gewollthaben erzählen.

Raketes Technik mutet dabei an wie aus der Frühzeit der Fotografie: das Schwarzweiß, die weich differenzierte Schärfe, die Stufung der Grautöne, das sachte Dunkel der Bildränder. Indem er dieses klassische Verfahren benutzt, um Protagonisten der populären Kultur abzubilden, erzeugt er Spannung. Noch eindringlicher werden die Bilder durch die Nähe zu den Portraitierten. Rakete lässt kein Make Up zu. Er nimmt nur ins Bild, was sich am verabredeten Ort findet, keine weiteren Requisiten oder Kostüme.

Künstliche Lichtquellen benutzt er nur ausnahmsweise. Und er fotografiert mit einer Linhoff Technika. Das ist ein Ungetüm von Großbildkamera, viel älter noch als der Fotograf selber. Mit diesem Schwergewicht zu arbeiten, das auf ein anderthalb Meter großes Stativ drückt und massive Scheiben belichtet, tut sich heute niemand mehr an. Es gibt ja auch kaum noch Filmmaterial dafür.

Die Box hat bei Rakete lange Belichtungszeiten, wenigstens eine achtel Sekunde — worauf sich auch der Titel der Schau bezieht —, manchmal sogar zehn Sekunden. Wenn sich während dieser Zeit etwas bewegt, verwischt das Bild. So verharrte der todkranke Maler Jörg Immendorff mit zartem, fast sehnsuchtsvollem Gesichtsaudruck geduldig vor einer Nelke, dem alten Passions- und Erlösungssymbol. Das Fotografieren als Atemhalten.

Und beim Atemanhalten, das weiß man seit Kindertagen, bleibt die Zeit stehen.

(RP)
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