Deutsche Wettbewerbsbeiträge Die Berlinale erzählt von Liebe und Familie

Berlin · Zwei deutsche Beiträge konkurrieren um den Goldenen Bären. Andreas Dresen erzählt den Fall Murat Kurnaz als Komödie. Und Nicolette Krebitz verlegt Paris an die Spree.

 Sophie Rois und Milan Herms in „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“.

Sophie Rois und Milan Herms in „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“.

Foto: dpa/Reinhold Vorschneide

Nach manchen Berlinale-Filmen, die zum Teil um neun Uhr morgens beginnen, kommt man mit dem Wunsch aus dem Kino, von jemandem umarmt zu werden oder zumindest eine heiße Milch mit Honig zu trinken. „Grand Jeté“ etwa, wo es um eine Mutter geht, die heimkehrt aus der großen Stadt und sich in der Provinz auf verstörende Weise ihrem Sohn nähert, den sie früh bekommen und lange nicht gesehen hat. Oder „La Ligne“, der gleich zu Beginn über mehrere Minuten Szenen extremer Gewalt in Zeitlupe zeigt. Eine Mutter wird von ihrer erwachsenen Tochter geschlagen, die Geschwister versuchen sie zurückzuhalten, und man weiß nicht, was diese Frau so zornig gemacht hat. Es wird jedenfalls viel geseufzt vor dem Cinemaxx am Potsdamer Platz.

 Umso froher ist man über den ersten deutschen Wettbewerbsbeitrag. In „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ wagt Andreas Dresen etwas Überraschendes: Er erzählt den Fall Murat Kurnaz, der von 2002 bis 2006 unschuldig und unter Folter im US-Lager Guantanamo inhaftiert gewesen ist, als Komödie. Dresen, der zuletzt mit dem Musikerporträt „Gundermann“ im Kino war, wählt dafür die Perspektive der Mutter. Er zeigt ihren ausweglos scheinenden Kampf um die Freilassung des Sohnes. Sie führt ihn beharrlich und mit Arglosigkeit und viel Charme vom Bügelbrett daheim in Bremen. Er wird sie bis nach Washington führen.

 Die Rolle der Rabiye Kurnaz besetzte Dresen mit der Kölner Comedienne Meltem Kaptan („Ladies Night“). Sie spielt ihre erste Hauptrolle in einem deutschen Kinofilm, und mancher wagt bereits die Prognose, die 41-Jährige könne für ihren Auftritt mit einem Silbernen Bären belohnt werden. Sie drückt allerdings auch ganz schön auf die Tube, gönnt der Geschichte nur selten stille Momente. Sie balanciert auf der Grenze zur Comedy, gibt die Mama, die selbst nie verliebt war und nur geheiratet hat, um Kinder zu bekommen, mit dem dauernden Willen zur Überwältigung. Sie wirft mit Lebensweisheiten um sich, und sie findet in Alexander Scheer als Anwalt Bernhard Docke einen idealen, weil norddeutsch in sich ruhenden Gegenpol.

 Die Produktion greift bisweilen so heftig in den Bereich der Wohlfühl-Komödie aus, dass man durch die gelegentliche Einblendung der Anzahl an Tagen, die seit der Inhaftierung vergangen sind, an den Ernst der Sache erinnert werden muss: Nach 1786 Tagen treffen sich Mutter und Sohn wieder. In der Pressekonferenz zum Film sagte Dresen, er habe bewusst einen Spielfilm über das Thema gedreht. „Die nackte Realität bei so einem Thema würde sich im Kino wahrscheinlich auch keiner anschauen wollen.“ Der deutschen Politik wirft er vor, sie habe zum Teil aktiv verhindert, dass Kurnaz zurückkehrt.

 Alexander Scheer und Meltem Kaptan in „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“.

Alexander Scheer und Meltem Kaptan in „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“.

Foto: dpa/Andreas Hoefer

 Das Private als das Politische: Es geht um Familie und die Beziehungen zwischen Menschen bei dieser Berlinale. Das zieht sich wie ein Leitthema durch auffallend viele Produktionen. Sie wagen einen anderen Blick auf das Zusammenleben, sie versuchen, es neu zu definieren. In diese Reihe passt auch der zweite deutsche Beitrag im Bären-Rennen. „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz beginnt in Berlin-Charlottenburg, wo die von Sophie Rois gespielte Anna vor der „Paris Bar“ die Handtasche gestohlen wird. Der Zufall will, dass Anna, die Schauspielerin ist, einem Schüler mit Sprachproblemen Unterricht geben soll. Es ist der minderjährige Dieb.

 Man spürt dem Film an, dass er zur „Nouvelle Vague“ herüberzwinkert, dass er Paris ans Brandenburger Tor verlegen möchte und auch mit dem Tabu zu kokettieren bereit ist. Sophie Rois ist unheimlich gut in der Rolle dieser Frau, die einst einen Partner unter schrecklichem Umständen verloren hat, was aber nur angedeutet wird. Sie tänzeln so ein bisschen umeinander herum, die Frau und der junge Kerl, und dann geht alles sehr schnell, vielleicht zu schnell: Sie reisen nach Nizza und machen auf Bonnie und Clyde. So richtig wird nicht klar, was sie an ihm findet, wann genau aus Lehre Leidenschaft wurde. Und schließlich weitet sich die Handlung auch noch zum Krimi aus. Die Bilder sind großartig  komponiert. Annas Wohnung etwa mutet wie eine Höhle an, durch die Licht und Luft ziehen und sie allmählich gelb einfärben.

Schön ist die Geschichte, wie Nicolette Krebitz ihren Hauptdarsteller Milan Herms entdeckt hat. Sie sei mit einer Freundin in der Sauna im Europacenter in Berlin gewesen. Da habe Herms am Pool gelegen, mit seiner Freundin geflirtet, und Krebitz wusste: Das ist er. Und weil es ihr zu bescheuert war, „wie Harvey Weinstein im Bademantel“ hinzugehen, holte sie sich in der Cafeteria einen Block mit Schultheiss-Aufdruck, sprach erstmal Herms‘ Freundin an und arrangierte dann den Tausch der Email-Adressen.

 Den schönsten Drehbuch-Satz bisher durfte übrigens Meltem Kaptan aufsagen. Auch er handelt irgendwie von der Liebe: „Der Mund wird nicht süß, nur weil man von Honig spricht.“

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