Kulturhauptstadt 2010 Das Ruhrgebiet - eine Art Zukunftslabor
Essen · Unvoreingenommen lassen sich Feuerwerk und grelle Lichtinstallationen auf Zeche Zollverein nicht betrachten. Denn der Schein künstlich erzeugt und mit ästhetischem Kalkül inszeniert bleibt stets eine Erinnerung an die vitalen, betriebsamen Zeiten der Montanindustrie: Wenn nämlich der Abendhimmel beim Hochofen-Abstich für etliche Sekunden erstrahlte und viel Phantasie freisetzte.

Frostiger Start für die Kulturhauptstadt
In der Vorweihnachtszeit wurde kleinen Kindern das stimmungsvolle Wetterleuchten damit erklärt, dass das Christkind gerade mit Plätzchenbacken beschäftigt sei.
Eine ziemlich romantische Geschichte ist das für die Knochenarbeit, die damals zur gleichen Zeit vor dem Hochofen zu meistern war. Und es bleibt eine von vielen Geschichten, die der Verklärung des Ruhrgebiets und seinem Mythos Nahrung geben. Ein Mythos braucht solche Erzählungen um Kraft und Dauer zu haben. Erzählungen, die Teil unseres kollektiven Gedächtnisses sind. In ihnen verbürgt sich unsere Identität.
Doch welche Geschichten sind das fürs Ruhrgebiet? Welche Erzählungen, die nicht sofort unter Klischee-Verdacht stehen wie jene Hymnen auf die ehrliche Arbeit und den ehrlichen Arbeiter, auf die gute Nachbarschaft, auf Menschen, die das Herz auf dem rechten Fleck tragen und so weiter. Immer wieder wird damit ein Gemütszustand beschrieben, bei dem Genügsamkeit und Bescheidenheit oberste Gebote zu sein scheinen.
Und wenn heute die Stärken des Reviers und seiner Menschen herausgestellt werden sollen, so sieht das nie nach einer überzeugten Leistungsschau aus. Jüngst versuchte man es mit der TV-Show "Glückauf, Ruhr 2010!”, bei der Markus Lanz allerlei Klischees zusammenrührte. Dazu wurden Prominente vorgeführt, mit denen man den exotischen Eindruck hinterließ: Seht her, sogar Ruhris können manchmal Filmstars, Sänger, Regisseure werden.
Überhaupt ist es fraglich, ob sich die knapp fünf Millionen Menschen zwischen Duisburg und Dortmund tatsächlich zusammengehörig fühlen. Die 4400 Quadratkilometer-Fläche hat es in seiner 150 Jahren währenden Geschichte nicht einmal über eine spröde geografische Markierung hinausgebracht. Das "Gebiet” entlang der Ruhr verschluckt alle Sonderheiten seiner Städte und deren Geschichte die 1200-jährige Historie der mächtigen Abtei von Essen Werden ebenso wie die großen Handelstraditionen der einstigen "Hansestadt” Duisburg am westlichen und der "Hellweg-Stadt” Dortmund am östlichen Revierrand.
Der Namens-Schlamassel zwischen Flurbezeichnung (Ruhrgebiet), Arbeitsort (Revier) und mundartlicher Aneignung (Kohlenpott) macht zugleich das Künstliche dieser Region deutlich. In einer "normal” verlaufenden Siedlungsgeschichte ist das Ruhrgebiet nicht vorgesehen. Doch die Funde großer Kohlevorkommen und die technische Entwicklung der Stahlindustrie ließen die Zahl der Bewohner so sprunghaft ansteigen, dass von einer Entwicklung kaum die Rede sein konnte. Eine Stadt wie Bochum zählte 1800 noch 2200 Einwohner; 100 Jahre später waren es 117.000.
Das alles ist hinlänglich erforscht, bekannt, gedeutet; aber doch muss an diesen explosionsartigen Strukturwandel des 19. Jahrhundert erinnert werden. An eine Zeit, in der es viel Arbeit und zu wenige Arbeiter gab. In der die Industrialisierung darum Menschen in großer Zahl zusammenführte, die eins einte: der Migrationshintergrund. Über 150 Jahre ist das her, doch es scheint, als habe sich daran bis heute wenig geändert. Die Entwurzelung des modernen Menschen ist bis heute ein Kennzeichen des Ruhrgebiets geblieben und der Wandel seine permanente Herausforderung.
Heute gibt es weniger Arbeit, zu wenig Arbeit für all die Menschen. Eine Arbeitslosenquote jenseits der 13 Prozent stärkt nicht gerade die Zufriedenheit und das Selbstbewusstsein der Menschen jener Region, in der von Beginn an die Wirtschaft das Strukturbildende war natürlich auch in der Kultur; Zu ihren großen Förderern zählten große Industrielle, Haniel und Hoesch, Krupp, Thyssen und Flick.
An die Stelle der Montanindustrie ist kaum Nennenswertes getreten. Auch Kultur wird die Lücken nicht schließen. Mit der Kulturwirtschaft gerne auch thematisch großräumig "Kreativwirtschaft” genannt hat man zwar zukunftsträchtige Wirtschaftsfelder ausgemacht; doch es wäre fatal, würde man die Kultur gleich wieder in Dienst der ökonomischen Sache stellen. Kultur ist, will sie sich entfalten können, immer erst zweckfrei. Darin gründet sich ihre Unabhängigkeit und Unberechenbarkeit, das macht sie stark und zugleich angreifbar. Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, hat jüngst bemängelt, dass die Versuchung groß sei, im Revier aus der Industriekultur sofort eine Kulturindustrie zu machen. Natürlich wäre es falsch verstandene Kulturliebe, nicht auch Arbeitsplätze im Blick zu haben. Doch dies sollte nicht sofort oberste Prämisse werden.
Das Jahr der Kulturhauptstadt wird keine Revolution im Ruhrgebiet sein, wird nichts auf den Kopf stellen. "Ruhr 2010” ist bei aller Freiheit für spektakuläre Projekte tatsächlich stärker in Vorhandenes eingebunden als manche glauben. Denn ohne die Internationale Bauausstellung Emscher Park (19891999) gäbe es jene Kultur-Strukturen nicht, auf die Pleitgen und Co. jetzt aufbauen können und müssen: keine Jahrhunderthalle, keine Zeche Zollverein, keinen Gasometer und keinen Landschaftspark in Duisburg-Nord.
Diese großen Vorarbeiten gilt es mit Leben zu füllen, zu ergänzen und Wege zu finden, die nicht immer in hochmögende Masterpläne für kühne Metropolen-Visionen fließen müssen. Der Zentralismus könnte zudem gefährlich werden und klamme Kommunen auf den Gedanken bringen, spätestens nach dem Kulturhauptstadtjahr in Kooperationen Orchester auflösen und Theater schließen zu können. Der Brandbrief des Essener Generalmusikdirektors Stefan Soltesz ist darum auch kein böser Clou zum Auftakt von Ruhr 2010, sondern ein hellsichtiger Warnruf.
Vielleicht ist das Ruhrgebiet tatsächlich eine Art Zukunftslabor. Darin dürfen die Menschen aber keine Versuchskaninchen sein. Auch das ist ein Ausweis von Kultur.