Zum 20. Todestag von Wolfgang Neuss Bürgerschreck im Gewand des Kabarettisten

Düsseldorf (RPO). Drei Tage vor seinem Tod ruft Wolfgang Neuss den Filmemacher Rüdiger Daniel an. Der möge doch mal in seine Wohnung kommen. Also Lohmeyerstraße, Berlin-Charlottenburg. Es gebe da was zu erzählen. Und als die Kamera läuft, fängt Neuss zu erzählen an. Über sich und das Leben und den Tod, über Gott und die Welt. Ein großer, geistreicher Monolog wird es, den er nur zweimal unterbricht. Für eine Pause zum Haschen. Auch gegen die Krebsschmerzen.

 Wolfgang Neuss.

Wolfgang Neuss.

Foto: rbb

"Neuss Testament” heißt der Film, der aus dieser "Homestory” zum 20. Todestag von Wolfgang Neuss entstanden ist. Vermutlich sind es nur Programmkinos, die ein Publikum finden für diesen ungewöhnlichsten deutschen Kabarettisten ­ für den Nestbeschmutzer und Drogenfetischisten, den "Verräter der Nation”, wie 1962 die Bild-Zeitung titelte. Was geschehen war? Neuss hatte per Zeitungsannonce den Halstuchmörder des Francis-Durbridge-Krimis verraten.

So war das damals bei uns, und Neuss, die Nervensäge, schlug munter die Pauke dazu. Wer jetzt mit den alten Aufnahmen aus irgendwelchen verrauchten Clubs den Trommler wieder bei der Arbeit sieht, wie er sehr behutsam das Schlagwerk streichelt, die Teller rührt, mal kurz und sacht die Fußtrommel bedient und dazu in seinem Singsang über deutsche Verhältnisse meditiert, der denkt zunächst an einen großen Totentanz. Aber bald glaubt man in dieser Art der geistreich-bissigen Volksbelustigung einen Nachfahren zu erkennen, nur dass dieser sein Werk am Klavier verrichtet: Hagen Rether.

Keine Frage, Wolfgang Neuss war ein Star mit Auftritten vor 20.000 Zuschauern in der Waldbühne, war provokanter Schauspieler ­ in "Wir Kellerkinder” (1960) oder "Genosse Münchhausen” (1962), war fröhliche Großschnauze auf den Kleinkunstbühnen des Wirtschaftswunderlandes, war Pantomime, Conferencier und kluger Clown, mal mit Partnern, mal solo. Der Abstieg kommt früh und so radikal, wie Neuss sein ganzes Leben führte.

Ende der 60er findet man ihn in einer kleinen Berliner Bude, zunehmend verwahrlost, bald zahnlos und mit langen Zottelhaaren, von der Sozialhilfe lebend. Die Abwärtsfahrt -­ beschleunigt von Drogen - ­beginnt. Bald ist er nur noch ein altes Talk-Show-Monster, das 1983 den designierten Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker "Richie” nennt und ihm die Parole vorsetzt, dass auf deutschem Boden nie wieder ein Joint ausgehen dürfe. Und Weizsäcker, der Angegriffene und Vorgeführte, wird sich später an den Auftritt mit diesen Worten erinnern: "Ich bin dankbar, dass ich dieses Gespräch erlebt habe.”

In "Neuss Testament” wird Abschied genommen von einem, der auszog, die Welt nie und nimmer so hinzunehmen, wie sie zu sein scheint. Dass er mit 65 Jahren wenige Monate vor dem Fall der Mauer starb, ist eine bittere Pointe, die am Ende die Welt für ihn parat hatte. Als habe sie sich an seine Worte zur Wiedervereinigung erinnert: "Eines Tages steht sie vor der Tür, nur wir sind dann vielleicht gerade nicht zu Hause.”

Zu Neuss' 20. Todestag wird eine gekürzte TV-Version von "Neuss Testament” im WDR-Fernsehen am Montagabend, um 23.15 Uhr ausgestrahlt.

(RP)
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