Ausstellungen in Berlin Familienporträt mit Toten

Neue Ausstellungen lohnen eine Fahrt nach Berlin: zu inszenierten Bildern und magischen Momenten im Hamburger Bahnhof und der Alten Nationalgalerie.

Stumme Blicke, gefrorenes Lächeln. Unter einem schweren Kristallleuchter ist eine ganze Familie versammelt, deren Mitglieder sich sonst kaum ausstehen können und jede Begegnung meiden wie der Teufel das Weihwasser. Im Zentrum steht der zur Theater-Ikone stilisierte Ulrich Mühe. Neben ihm sitzen zwei seiner insgesamt drei Ehefrauen, die Schauspielerinnen Jenny Gröllmann und Susanne Lothar. Ulrichs Tochter, Anna Maria, auch sie eine begnadete Schauspielerin, schaut gelangweilt ins Leere. Daneben ihr Halbruder, Fotograf Andreas Mühe, der hier jung und alt, insgesamt mehr als zwanzig 20 Personen, versammelt und sich selbst mit aufs Bild gebracht hat. Doch weil Vater Ulrich und dessen Ehefrauen viel zu früh verstorben sind, hat er sie aus Silikon neu erschaffen, ihnen vornehme Anzüge und schicke Kleider angezogen und zeigt sie so, wie sie mit ungefähr 40 Jahren aussahen: ein irritierendes und irgendwie auch schockierendes Porträt einer Sippe, das die Toten nicht ruhen und die Lebenden vor Ehrfurcht, Neid und Hass erstarren lässt. Willkommen in der deutschen Familien-Hölle!

Andreas Mühe, das liegt in den Genen, liebt die Inszenierung, das Spiel mit Erwartungen, den frechen Blick und die polemische Geste: Das Leben ist ein einziges Theater, die Fotografie eine bloße Täuschung, die Realität eine böser Traum. Er hat schwule Jungs in Nazi-Uniformen gesteckt und auf dem Obersalzberg posieren lassen. Ein Double von Kanzlerin Merkel hat er durch Deutschland geschickt. Jetzt hat sich der Sohn von Ulrich Mühe und dessen erster Ehefrau, der Theater-Intendantin Annegret Hahn, die ganze sympathisch-fürchterliche „Mischpoke“ vorgeknöpft und sie in ein schön-scheußliches bürgerliches Ambiente versetzt: all die Mühes und die Hahns, wie sie sich gegenseitig schweigend verachten und doch nicht voneinander lassen können. Ein waghalsiges Projekt, kompliziert und teuer. Denn die täuschend echten Modelle der vielen Verstorbenen mussten von Spezialisten angefertigt werden, die auch für Madame Tussauds und die Filmindustrie tätig sind. Die in einer verdunkelten Familiengruft gezeigten Bilder der „Mischpoke“: nur eine von mehreren Ausstellungs-Highlights, die derzeit im weitläufigen Hamburger Bahnhof in Berlin zu bestaunen sind.

Überall in den verstreuten Räumen und versteckten Gängen stößt man auf Werke von Jeff Koons und Marina Abramovic, Joseph Beuys und Donald Judd, die unter dem Titel „Der Elefant im Raum“ die körperliche Wirkung einer Skulptur untersuchen. Es geht um den Blick, die Erfahrung des Betrachters und die Repräsentation von Kunst im öffentlichen Raum. Das ist überraschend. Aber noch nicht so magisch, wie die Momente, die einen die Bilder von Jack Whitten schenken: „Jack´s Jacks“ nennt sich die Schau, die erstmals in Europa einen Überblick über das grandiose Werk des jüngst verstorbenen Malers (1939-2018) gibt. Der amerikanische Künstler mit afrikanischen Wurzeln hat die Grenzen zwischen gegenständlicher und abstrakter Malerei immer wieder neu ausgelotet, sich inspirieren lassen von Jazz-Musikern wie John Coltrane und Art Blakey, von Künstler-Kollegen wie Cy Twombly und Robert Rauschenberg, vom Freiheitswillen eines Martin Luther King und vom anti-rassistischen Pathos eines Mohammad Ali. All diesen Wahlverwandten widmet er denn auch seine überbordenden Farb-Landschaften, seine manchmal mit einem selbst gebauten Rakel verschmierten, manchmal aus getrockneten Acryl-Krusten herausgeschnitten, mit Gummi-Gegenständen und Holz-Partikeln versehenen Material-Exkursionen.

Von der farbenfrohen politischen Kunst-Polemik angeturnt ignorieren wir die im Westflügel untergebrachte und nur mit Zeitfenster-Ticket zu besichtigende Bilderflut des wegen seiner Nazi-Verstrickungen neuerdings heftig umstrittenen Malers Emil Nolde. Über die korrigierte Sicht auf einen Künstler, der sich selbst gern als Opfer nationalsozialistischer Kultur-Politik sah, sowie über die vorauseilende politische Korrektheit der Kanzlerin, die ihre eben noch heiß geliebten Nolde-Bilder flugs abhängen ließ, ist alles gesagt. Lieber schlendern wir durch einen labyrinthischen Gang hinüber in die angeschlossenen Rieckhallen und sichten dort die unter dem Titel „Local Histories“ versammelten Arbeiten von wegweisenden Künstlern der Moderne, die Stile und Gattungen aufheben und neue Begegnungen mit der Kunst ermöglichen wollen. Es geht um Verbindungslinien zwischen Sigmar Polke und Gerhard Richter, gefragt wird, in welchem Kontext Kunst entsteht und welche Galerien die Performer Bruce Nauman und Jenny Holzer unterstützt haben.

Wer dann immer noch Entdecker-Lust und Kunst-Energie spürt, sollte sich eines der draußen herumstehenden Leihfahrräder schnappen, hinüberradeln zur Museumsinsel und einen unterschätzten und heute fast vergessenen französischen Maler und Mäzen wieder entdecken: In der Alten Nationalgalerie ist für kurze Zeit Gustave Caillebotte mit seinem monumentalen Bild „Straße in Paris, Regenwetter“ von 1877 zu Gast. Eingerahmt wird das zwischen impressionistischer Farbspiegelung und fotorealistischer Wiedergabe einer Alltagsszene pendelnde Gemälde von Skizzen des Malers und Bildern von Manet, Monet und Cézanne, Freunde und Kollegen, denen er, solange sie es noch nötig hatten, finanziell unter die Arme griff. Geld spielt für den aus reichem Hause stammenden Caillebotte keine Rolle. Sein nur selten ausgeliehenes Bild wird bald wieder nach Chicago zurück reisen.

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