Kulturlexikon: O wie Ohrwurm Manchmal hat der Ohrwurm sogar Giftzähne

In unserer Serie beschäftigen wir uns heute mit einem sympathischen Plagegeist. An ihm scheitert jedes Virenprogramm.

 Dem Schlagersänger Heintje gelangen in den 1960er Jahren einige Schnulzen mit Ohrwurm-Charakter.

Dem Schlagersänger Heintje gelangen in den 1960er Jahren einige Schnulzen mit Ohrwurm-Charakter.

Foto: Büttner, Martin (m-b)

Er ist Freund und Feind. Fetzen vom Schönsten. Piesacker der Sinne. Notorischer Gesell im Kopf. Erinnerungswürdiger Ausschnitt vom großen Ganzen. Jeder kennt ihn, jeder liebt ihn, jeder fürchtet ihn. Man sieht Leute durch die Straßen gehen oder im Auto sitzen und eine Melodie summen, singen, pfeifen. Nie ist es ein ganzes Stück, sondern nur dieses Teilchen, diese Miniatur – der Ohrwurm.

Natürlich kennt dieser Egel keine Grenzen, er taucht auf, wo man sich wohlfühlt. Jazz, Pop, Klassik, Rock, Volkslied, HipHop, House, Rap – der Mensch und seine Erinnerung schneiden sich überall ein Eckchen heraus, das zum Ohrwurm wird, zum Verfolgungsteufel. Nicht jeden Ohrwurm will man im Kopf behalten, doch besitzt er unerhörte Resistenz. Virenprogramme zischen an ihm vorbei. Der Ohrwurm ist immun gegen jeden Versuch seiner Vernichtung.

Kriechen Ohrwürmer nur aus musikalischen Edelstellen? Nein, manchmal ist auch banalsten Rhythmen eine enorme Einprägsamkeit eingeschrieben. Raffinierten Komponisten gelingt es, ein Stück 08/15-mäßig runterzuschreiben, doch eine einzige melodische Kurve hineinzusticken, die eine ganze Welt kirre machen kann.

Musikwissenschaftler reden von „popularitätsfördernden Momenten“ in der Musik. So ist das Intervall der großen Sext auf einer guten Taktzeit stets geeignet, Signalspannung und damit Aufmerksamkeit zu garantieren. Der Musikforscher Hermann Rauhe hat mal eine Reihe von Evergreens untersucht und ergründet, dass es sehr wohl Kriterien gibt, welche die Geburt des Ohrwurms befördern. Denken wir an „Ein Prosit der Gemütlichkeit“, an „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ oder „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“: Überall spielt die große Sext die Hauptrolle. Natürlich auch im Kirchenlied „Maria, Maienkönigin“.

Im Film kann die Musik von solch durchschlagender Wirkung sein, dass ihre Ohrwürmer noch durch den Kopf kriechen, wenn man die Bilder längst vergessen hat. Das Gehirn spielt sie dem inneren Auge gleich wieder ein, summt man nur die Melodie. Ich erinnere mich an John Williams’ Hauptthema in Spielbergs Film „E.T.“ – es hat sich mir dermaßen eingebrannt, dass ich es in seiner pompösen Großartigkeit sogar mal auf der Orgel gespielt habe. Hinterher wollten einige Kirchgänger wissen, von welchem Klassik-Komponisten das stammte: „War das nicht von Widor?“

Obwohl jeder Mensch als Wirtstier in Frage kommt, so entscheidet oft seine musikalische Heimat darüber, was er zum Ohrwurm befördert und was nicht. Dennoch gibt es den Klassikhörer, der plötzlich eine Melodie von Heintje pfeift, die ihn vor 50 Jahren mal angeflogen hat. Er wird dies nicht als Niveauverlust abtun, denn jeder Ohrwurm ist Privatsache. Es sei denn, man kennt des Wurmes Herkunft nicht – dann ist man irritiert und summt ihn Freunden vor: Wisst ihr, woher das stammt?

Und manchmal ist es die Situation, die einen wehrlos macht gegen das Eindringen des kleinen Begleiters. Wer frisch verliebt ist, wird irgendein belangloses Tonmotiv, das er mal zu zweit gehört hat, dauerhaft in sich konservieren. Das kann sehr schön sein. Wenn die Liebe aber den Bach hinunter geht, kann er, der Ohrwurm, immer noch da sein und gelegentlich einen kleinen Herzschmerz auslösen; daran merkt man, dass er keine Blindschleiche ist, sondern Giftzähne besitzt.

Meistens aber ist er harmlos und wurmt keinen Menschen.

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