Kulturlexikon Getrieben von Visionen

Düsseldorf · Hildegard von Bingen (1098 - 1179) gilt als die erste Vertreterin der deutschen Mystik.

Kulturlexikon: Hildegard von Bingen erste Vertreterin deutscher Mystik.
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Für den einen reichen Räucherstäbchen und schummriges Licht, der andere mag sich vielleicht gerne ein wenig gruseln – mystische Momente sind ein subjektives Empfinden. Um sie zu erfassen oder zu spüren, braucht jeder Mensch andere Anreize. Aber niemand wird wohl einen mystischen Moment als laut und schrill bezeichnen, als dröhnend oder grell. Innehalten, Staunen, Stille sind die Attribute der Mystik. Der Begriff geht auf den altgriechischen Wortstamm mystikós (geheimnisvoll) und myein (sich schließen) zurück. Der Mystiker verschließt Augen und Mund – Schweigen gehört zum Wesen der Mystik.

Mystik ist vor allem aber auch Religion. Reine Religion. Dem Mystiker geht es um den Zugang zum puren Glauben, frei von theologischen Vorgaben und Vorschriften. Sein Ziel ist in allen Religionen das Gleiche: Erleuchtung. Er sucht den Zugang zum Heiligen in sich selbst. Die Verschmelzung des eigenen Ichs mit dem Ursprünglichen, dem Urgrund der Wirklichkeit.

Auf dem Weg dorthin war auch die bekannteste Mystikerin des Mittelalters, Hildegard von Bingen (1098 - 1179). Geleitet durch Visionen, die sie als Stimme Gottes aus ihrem Inneren verstand, wurde sie zur wohl bekanntesten Prophetin ihrer Zeit.

Bereits als Achtjährige wird sie der Kirche überantwortet – eine geistliche Karriere war ihr als zehntes Kind einer wohlhabenden Familie vorbestimmt. In einer Klause, die dem Kloster der Benediktinermönche Disibodenberg bei Bad Kreuznach untersteht, wächst sie auf. Das Dasein der Klausner war noch ein Stück weit extremer als das der benachbarten Mönche: In totaler Abgeschiedenheit und Enge, eremitisch und in Askese wächst das Mädchen auf (claudere bedeutet schließen; Klaustrophobie ist die Angst vor verschlossenen Räumen). Immer häufiger bekommt sie Visionen, die sie als Worte Gottes aus ihrem Inneren versteht.

Visionen, die ihr einen mächtigen Fürsprecher einbrachten: Obwohl damals nur Männer berechtigt waren zu schreiben und zu lehren, erhielt Hildegard 1147 von Papst Eugen III. persönlich die Erlaubnis und sogar den Auftrag, ihre Visionen zu veröffentlichen und predigend zu verbreiten. So wurde die Benediktinerin zur ersten Kirchenlehrerin ihrer Zeit. Bis heute wird sie In der römisch-katholischen Kirche als Universalgelehrte und Heilige verehrt, und auch die evangelische Kirche widmet ihr Gedenktage.

Heute würden Mediziner die visionären Erscheinungen der Hildegard von Bingen wohl eher als Symptomatik einer bestimmten Migräneform deuten, dem sogenannten Skotom. Hier gehört das Schauen einer Aura, eines hellen Lichtes zu den typischen Anzeichen.

Jeder mag Mystik heute für sich auslegen, wie er möchte. Und wenn es für die meisten vielleicht auch nur ein gelegentliches Innehalten bedeutet. Gut, dass es die Mystik gibt. Sie tut einer Gesellschaft, in der es immer schnelllebiger, oberflächlicher und bisweilen auch egoistischer zugeht, in jedem Falle gut.

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