Premiere im Staatenhaus Eine „Carmen“ mit vielen Wunder-Momenten

Fulminanter Abend: An der Kölner Oper inszeniert Lydia Steier den Klassiker auf sensationelle Weise neu.

 Martin Muehle und Adriana Bastidas-Gamboa.

Martin Muehle und Adriana Bastidas-Gamboa.

Foto: Hans-Jörg Michel

Nanu, wo ist denn das Orchester? Im Kölner Staatenhaus ist nur die nackte, leere Messe-Architektur der Ausweichspielstätte zu sehen, die keinen Orchestergraben besitzt. Dann entdeckt man links neben der Spielfläche hinter einem Gazevorhang das Gürzenich-Orchester, das also den ganzen Abend ohne Sichtkontakt zur Bühne spielen muss. Kann das gut gehen?

Tatsächlich geht es fantastisch, denn Claude Schnitzler am Pult hat eine derart minutiöse Einstudierungsarbeit geleistet, dass der ganze Riesen-Apparat von „Carmen“ mit Chor, Extrachor, Kinderchor und dem großen Solistenensemble sich wie ein Uhrwerk verzahnt. Keine Wackler, keine Ungenauigkeiten, kein Schwimmen. Das ist das erste Wunder dieses fulminanten Opernabends. Das zweite ist Schnitzlers unerhört schlanker, bissig-leichter Zugang zu Bizets Partitur, der das Werk als Opéra Comique im besten Sinne des Wortes versteht: zu Beginn anekdotisch sprechend, wie eine leichtfüßige Operette und am Ende die Schärfe und Fallhöhe einer großen Tragödie erreicht.

Das dritte Wunder ist Lydia Steiers unerhört packende Regie, die vor Ideen nur so sprüht, keinen Moment langweilt und auf Tempo und akribisch klare Personenführung setzt. In der Ouvertüre stürzt verstört ein junges Mädchen im weißen Unterkleid herein auf die leere Bühne, deren bräunlich verspritzte Kacheln an ein Schlachthaus erinnern. Ein zweites Mädchen kommt hinzu, das Alter Ego des ersten. Sie umkreisen sich, dann sieht man den blutigen, tödlich verletzten Rücken des zweiten Mädchens. Ganz eng an der Ouvertüren-Musik mit ihren Verdüsterungen inszeniert Steier eine Albtraumszene, die Carmen in ihre nahe Zukunft blicken lässt. Dann steigt Adriana Bastidas-Gamboas zierliche Carmen entschieden in einen Militär-Overall und sagt fortan der Welt – nicht nur den Männern - den blutigen Kampf an. Eine Außenseiterin, eine Partisanin des freien Willens und der freien Liebe.

Lydia Steier verlegt die Handlung ins Spanien der frühen Franco-Zeit und zieht als roten Faden in ihr Deutungskonzept die Metapher des käuflichen Fleisches vor dem Hintergrund archaischer Rituale des spanischen Katholizismus und des blutrünstigen Stierkampfs ein. Das erste Bild zeigt eine Markthalle mit Metzgerei-Buden, ein Gabelstapler fährt einen toten Stier herein, Partisanin Carmen steht dabei abseits und raucht. Die Schmuggler-Szene besetzt Steier mit Al-Capone-Figuren und lässt sie in einem Kirchenraum mit Strahlkranz-Marien-Ikonen spielen und in einer Orgie münden. Später hausen Carmen und die Schmuggler in einer Wohnwagen-Straßenstrich-Kolonie, wo eifrig gekokst wird.

Martin Muehle ist mit höhensicherem Tenor-Metall ein attraktiver, aber zunächst tollpatschiger Don José, der in rasendem Tempo eine Psychomacke entwickelt, Adriana Bastidas-Gamboas dunkel timbrierter Mezzo beglaubigt ihre durch Distanz attraktive Carmen mit Verve, Oliver Zwarg ist mit heldisch zupackendem Bariton ein imposanter Escamillo im Todes-Boten-Dress, Claudia Rohrbach singt eine lupenreine Micaëla, Frasquita (Alina Wunderlin) und Mercédès (Arnheiður Eiríksdóttir) sind ein herrlich durchgeknalltes Gespann, alle weiteren Rollen sind famos besetzt. Am Ende nimmt Carmen Don José den Dolch weg, und ersticht sich selbst, bis zuletzt Regisseurin ihres Lebens. Großer Jubel. Hinfahren!

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