"fringsen" Kohlenklau mit Gottes Segen

Am bitterkalten Silvesterabend vor 70 Jahren hielt Josef Kardinal Frings jene berühmte Predigt, durch die sich viele Menschen zum Diebstahl von Kohle-Briketts ermutigt fühlten. Damals fand der Begriff "fringsen" Eingang in die deutsche Sprache.

Der Winter zwischen den Jahren 1946 und '47 war besonders hart, die Menschen froren bitterlich in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Josef Kardinal Frings konnte das Leid nicht mit ansehen. Also hielt er an Silvester in Köln eine Predigt, deren Inhalt rasch im Land berühmt wurde und die deutsche Sprache um den Begriff "fringsen" bereicherte. Das Wort bedeutet, dass man in der Not zur Selbsthilfe greifen darf, auch bei Verstoß gegen behördliche Anordnungen. So verstanden viele die Ansprache als Erlaubnis zum Kohlenklau - und griffen zu.

Sein Wahlspruch laute "Für die Menschen bestellt", sagte der in Neuss geborene Frings später, "also sah ich es als meine Aufgabe an, denen zu helfen, die in Not waren." Und weiter: "Ich selbst habe einen etwas kühnen Vorstoß gemacht bei der Zuteilung an Brand, der so gering war, dass dabei ein menschenwürdiges Leben nicht möglich war. Ich habe das in einer Predigt auch gesagt, allerdings in sehr vorsichtiger Weise mit vielen Einschränkungen." Viele Menschen überhörten diese Einschränkungen indes. "Die Zeitungen haben nur den Satz, man dürfe sich in der Not etwas nehmen, veröffentlicht", erinnerte sich der Kardinal. Er habe jedoch auch gesagt: "Wer aber mehr nimmt als das Notwendige, versündigt sich gegen das siebte Gebot und wird einmal darüber vor unserem Herrgott Rechenschaft ablegen müssen."

Die Kälte setzte den Deutschen damals enorm zu. Sie suchten nach Gelegenheiten, sich mit Heizmitteln zu versorgen. Und das war vor allem Braunkohle, die im rheinischen Revier gewonnen wurde. Das rheinische Brikett musste aber auch bisherige Steinkohlenbezieher mitversorgen. Daneben führte der Zwang, die früheren Absatzgebiete der mitteldeutschen und ostelbischen Reviere (etwa Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern und Berlin) mitzubeliefern, zu Kürzungen auf dem Hausbrandsektor. Vor dem Krieg waren rund zwei Drittel der rheinischen Brikettproduktion an die Haushalte gegangen; im Jahr 1948 standen den Haushalten kaum 30 Prozent zur Verfügung.

Die Menschen griffen bereits vor der Silvesterpredigt des Kardinals vielfach zur "Selbsthilfe", aber nun meinten sie, die Legitimation bekommen zu haben. Auf den Rangierbahnhöfen, an Steigungsstrecken oder in Kurven, wo die Züge langsam fuhren, kletterten sie auf Waggons und warfen Briketts herab. Es wurden Züge zum Halten gebracht und Waggontüren aufgerissen. Mancher Zug erreichte seinen Bestimmungsort halb leer.

Frings' strittige Einlassung umfasste nur einen Teil seiner Silvesterpredigt. Da der Dom beschädigt war, verlegte der Erzbischof Gottesdienste in auswärtige, intakte Pfarrkirchen. Die Silvesterpredigt 1946 wurde in der Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl abgehalten. In seiner Predigt trug Frings seine Sorgen um die Ostvertriebenen und Flüchtlinge vor, lenkte dann den Blick auf die Verfolgung der Kirche im Osten und setzte sich mit dem Schuldbegriff auseinander. Er erteilte dem Gedanken einer Kollektivschuld des deutschen Volkes an den Ereignissen der vergangenen Jahre eine Absage, betonte dabei aber, dass jeder einzelne Christ schuldig geworden sein könne und daher sein Gewissen prüfen und seine Schuld bekennen müsse.

Es folgten Gedanken zum siebten Gebot ("Du sollst nicht stehlen"), in denen er ausführte: "Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann." Dabei müsse man sich in höchster Not befinden, dürfe den Geschädigten nicht in gleiche Not bringen und bleibe zum Schadenersatz verpflichtet.

Die "Kölnische Rundschau" berichtete in ihrer Ausgabe vom 3. Januar 1947 unter der Schlagzeile "Kardinal Frings über die Kollektivschuld". Das Blatt berücksichtigte auch die anderen Bereiche der Predigt und paraphrasierte die Ausführungen zum siebten Gebot, jedoch ohne die von Frings genannten Einschränkungen. Eine praktische Reaktion lieferten die Kölner Bürger: Offensichtlich nahmen die Diebstähle der "Klütten" genannten Braunkohlebriketts im Januar 1947 stark zu. Am 5. Januar 1947 bat der britische Zivilgouverneur von Nordrhein-Westfalen, William Asbury, den Kardinal, er möge in einer Erklärung den organisierten Diebstahl verurteilen. Eine Pressemitteilung von Frings erschien unter dem Titel "Grenzen der Selbsthilfe" am 14. Januar. Gleichzeitig teilte der Polizeipräsident mit, dass täglich 900 Tonnen Kohle von Eisenbahnzügen entwendet würden und er gezwungen sei, Kohlentransporte durch Schutz-, Bahn- und Belgische Militärpolizei zu schützen. Die Militärregierung drohte Dieben schwerste Strafen an.

Die Thesen des Erzbischofs fanden ein zwiespältiges Echo; die Reaktionen schwankten zwischen vorbehaltloser Zustimmung und harscher Ablehnung. In den zustimmenden Schreiben steht die Bewunderung im Vordergrund, dass Frings sich nicht scheute, Unbequemes für die Besatzungsmacht zu formulieren, um eine Besserung der Dinge herbeizuführen. Negative Zuschriften kritisierten, dass der Predigtwortlaut eine Rechtsverwässerung zur Folge habe.

So neu waren die Gedanken der Silvesterpredigt allerdings nicht. Bereits am 12. April 1945 hatte Erzbischof Lorenz Jaeger von Paderborn seinen Priestern Richtlinien an die Hand gegeben, die das Zugreifen auf fremdes Eigentum in höchster Not unter bestimmten Umständen legitimieren helfen sollten, und auch in einer Behelfsausgabe des Kirchlichen Anzeigers für die Diözese Aachen von 1945 oder 1946 kehrten die gleichen Gedanken wieder. Frings konnte sich also auf Vorgänger und im Übrigen allgemein auf die Ergebnisse der katholischen Morallehre stützen, zumal die deutschen Bischöfe in ihren Nachkriegshirtenbriefen das Recht auf Eigentum betont hatten, mit der Einschränkung, dass in Notfällen eine gerechtere Verteilung erfolgen müsse. Noch am 18. Juli 1947 berichtete die "Kölnische Rundschau" denn auch über "Scharen von Brikettsammlern" an den Schienen, am 30. Juli hieß es, ein Teilnehmer an einem Überfall auf einen Kohlenzug sei erschossen worden.

Frings erwähnt in seinen Erinnerungen, die Wortschöpfung "fringsen" sei in den Duden gekommen; sein Sekretär nennt berichtigend den wirklichen Fundort, das "Wörterbuch der deutschen Umgangssprache" von Heim Küpper. Im Internetlexikon Wikipedia findet sich heute ein Eintrag zum Thema "fringsen": "Frings wurde mit dem Wort ,fringsen' für ,Mundraub begehen' in der deutschen Sprache verewigt."

Der Kardinal selbst räumte ein, dass weit über das "Fringsen" hinausgegangen worden sei. Und da gebe es nur einen Weg: unrechtes Gut zurückgeben, sonst gebe es keine Verzeihung bei Gott. Bis ins hohe Alter habe Frings mit dem Thema "fringsen" gehadert. Der Kardinal habe vor seinem Tod 1978 immer wieder gesagt, dass er das nie so gewollt habe, berichtete sein letzter Pfleger, der Alexianerbruder Wunibald. Bei der feierlichen Umbenennung der Düsseldorfer Südbrücke über den Rhein in "Josef-Kardinal-Frings-Brücke" am 24. Juni 2006 wurde als Benefiz-Aktion angeboten, "rückwärts zu fringsen", indem man zugunsten Bedürftiger besondere Briketts kaufen konnte.

Ein Denkmal hat dem Kardinal auch Nobelpreisträger Günter Grass gesetzt, als er Jacob Grimm bei der Arbeit am Deutschen Wörterbuch über die Schulter schaute. Grimm arbeitet da gerade am Buchstaben F: "Als aber der Winter nicht enden wollte, sprach Kardinal Frings von der Kanzel herab alle Kohlendiebe von Sünde frei, worauf das frierende Volk fortan jegliche Futtersuche - auch die fürs Feuer - ,fringsen' nannte."

(RP)
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