Neues Forschungszentrum Das Erbe der Hildegard von Bingen

Eibingen · Sie war eine der einflussreichsten Frauen des Mittelalters. 2012 erhob Papst Benedikt XVI. sie zur Heiligen und Kirchenlehrerin. Eine neue Akademie will ihr spirituelles Erbe erforschen – für die Zukunft Europas.

 Darstellung der Heiligen Hildegard von Bingen auf einer Postkarte um 1910.

Darstellung der Heiligen Hildegard von Bingen auf einer Postkarte um 1910.

Foto: dpa

Schon als Kind sah sie in ihrem Inneren mächtige, helle Bilder, die ihr Denken über Gott, die Schöpfung und das Sein beflügelten. Doch erst mit 43 Jahren begann Hildegard von Bingen, über ihre Visionen zu schreiben. Sie suchte Worte für die lichten Erscheinungen, gab eigene Deutungen ihrer Bilder und bemühte sich sofort bei den einflussreichen Persönlichkeiten ihrer Zeit um die Anerkennung ihrer Gedanken. Diese Bestätigung bekam sie. Und so konnte Hildegard 1141 mit dem „Liber Scivias“, ihren „Wegweisungen“, an die Öffentlichkeit treten. Diese Texte waren der Beginn eines umfangreichen spirituellen, literarischen Lebenswerks, das auf 481 Blatt Pergament im „Rupertsberger Riesenkodex“ überliefert ist. Das in Schweinsleder gebundene mächtige Konvolut, das Kriege und Zeitenwenden überstand, ist eine der beeindruckendsten Textsammlungen des lateinischen Mittelalters – und Vermächtnis einer Theologin, Forscherin und Politikerin, die über ihre Zeit hinaus wirkt.

Dieses Erbe historisch-kritisch zu erschließen und es fruchtbar zu machen für die Gegenwart, ist das Ziel einer neuen Akademie, die am 10. Mai im Kloster St. Hildegard in Eibingen eröffnet wird. Auf dem Rupertsberg gleich gegenüber auf der anderen Rheinseite hatte Hildegard ihr erstes Kloster gegründet. Das übte bald so große Anziehung aus, dass sie in Eibingen einen zweiten Konvent gründete, in dem Frauen nach der Benediktsregel beteten und arbeiteten. Oberhalb davon liegt heute die felsengraue Benediktinerinnenabtei St. Hildegard in den Weinbergen des Rheingaus. Die Schwestern bauen dort in Eigenregie erfolgreich Wein an, betreiben einen Klosterladen, ein Gästehaus, eine Keramik- und eine Restaurierungswerkstatt für Handschriften und Bücher. Und sie pflegen das spirituelle und wissenschaftliche Erbe ihrer Namenspatronin – und versuchen, es vor Vereinnahmung zu schützen.

Denn natürlich steht der Name Hildegard von Bingen auch für Heilkräuter, Dinkelrezepte, Naturheilkunde. Unzählige Anbieter von Naturprodukten versuchen unter ihrem Namen allerhand Elixiere, Salben, Kräuter- und Gewürzmischungen sowie Garten oder Ernährungs-Ratgeber zu vermarkten. Tatsächlich war die Ordensfrau eine umfassend gebildete Forscherin, die sich mit vielen Gestalten des Lebens beschäftigt hat. Ihre Interessen reichten von Musik und Erziehung über die Erkundung der Sprache bis zur Wirkung der Pflanzen. Doch viele Texte über Krankheiten, die Kraft edler Steine oder die Mittel der Natur werden der Mystikerin nur zugeschrieben. Die heilende Hildegard ist vor allem eine Erfindung des 20. Jahrhunderts.

Dahinter ist das schwerer zugängliche, tief in den Vorstellungswelten des Mittelalters wurzelnde philosophische und theologische Werk der einflussreichen Frau aus Bingen teils zurückgetreten. „Dabei ist es nicht nur von kirchenhistorischer Bedeutung, sondern kann uns für die Gegenwart viele Hinweise geben — zum Beispiel für die Zukunft Europas“, sagt Schwester Maura Zátonyi. Die Benediktinerin stammt aus Ungarn, hat klassische Philologie studiert und kam als junge Ordensfrau vor zwanzig Jahren in den Rheingau. Seither lebt sie im Kloster St. Hildegard und beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Erforschung von Hildegards Schriften. „Sie hat in einer Zeit gelebt, als die Kreuzzüge tobten, als es aber auch Menschen gab, wie den Abt des Klosters von Cluny, die auf die Vernunft bauten und etwa dazu aufriefen, den Koran zu übersetzen“, sagt Schwester Maura. Hildegards theologische Schriften könnten anregen, das eigene Glaubenswissen und die mittelalterlichen Wurzeln des europäischen Denkens zu erkunden. „Erst wenn wir unsere Wurzeln kennen, können wir anderen Religionen wirklich frei und offen begegnen“, so die Schwester. Wer wisse heute schon, was Trinität oder Eucharistie wirklich bedeute. Die Angst vor allem Fremden und das Bedürfnis zur Abgrenzung in Europa hätten eine Ursache in der Wurzellosigkeit vieler Christen.

Genauso aktuell findet die Schwester Hildegards Texte über die Rolle des Menschen in der Schöpfung. „Hildegard betont, dass Gott den Menschen mit Vernunft ausgestattet, ihm dazu aber auch einen Körper gegeben hat, damit er in der Welt wirken kann. Er hat einen Gestaltungsauftrag“, sagt Schwester Maura. Allerdings beschreibe schon Hildegard den Menschen als Rebellen, der seiner Verantwortung nicht immer gerecht werde. „Doch besitzt er die Fähigkeit zur Umkehr. Hildegard sagt, das Heil liegt im Umdenken, das ist auch heute unsere Aufgabe.“

Die neue Akademie bietet die Möglichkeit zum Zusammenschluss von Theologen, Philologen, Historikern aus unterschiedlichen Ländern, die ihre Forschung zu Hildegards Schriften vernetzen wollen. Es gibt auf der Homepage der Akademie beispielsweise eine Plattform, auf der alle aktuellen Forschungsarbeiten verzeichnet werden, eine umfassende wissenschaftliche Bibliographie zu Büchern über Hildegard ist in Arbeit.

Die Arbeit in der Akademie wird von einem Team von Menschen unterschiedlicher Disziplinen geleistet. Räumlich ist die Akademie eher spärlich ausgestattet. Im Kloster gibt es bisher nur zwei Büroräume, die nicht öffentlich zugänglich sind. Doch könne das alles noch wachsen, sagt Schwester Maura und lacht heiter. Bisher lastete die Verantwortung für alle wissenschaftlichen Arbeiten im Kloster allein auf ihren Schultern. „Darum bin ich überglücklich, dass es nun diesen Zusammenschluss gibt“, sagt sie, „jetzt können wir auch Projekte angehen, die über meine Lebenszeit hinausreichen werden.“

Unterstützt wurde die Neugründung unter anderem von dem Österreicher Monsignore Michael H. Weninger, der Mitglied des Päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog beim Heiligen Stuhl ist. Organisiert ist das Forschungszentrum als gemeinnütziger Verein, der sich über Mitgliedsbeiträge und Spenden finanzieren muss. Inhalte stehen also an erster Stelle.

Am 10. Mai werden sich zur Eröffnung der Akademie Wissenschaftler, Politiker und Förderer in der Abtei St. Hildegard zu einem Festakt treffen. Dann wird die neue Akademie tatsächlich lebendig.

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