Kim Kashkashian – Meisterin der Bratsche

Die Viola ist das Instrument der Gegenwart – auch dank der wunderbaren Amerikanerin, deren neue CD fasziniert.

Drei Viertel von Budapest lagen in Trümmern, die Musikakademie war unversehrt. Auf ihr wehte eine schwarze Fahne. Mit Sorge sahen es zwei junge Musiker, die an einem Septembertag 1945 zur Aufnahmeprüfung in der Akademie kamen, György Kurtág, 19 Jahre alt, und György Ligeti, drei Jahre älter. Der Mann, bei dem sie hatten studieren wollen, war soeben gestorben, für Béla Bartók hatte man die Fahne gehisst. So lernten sich zwei Komponisten kennen, die ganz unterschiedliche Wege gingen, stets befreundet blieben und die jetzt, sechs Jahre nach Ligetis Tod, von einer jüngeren Verehrerin erneut zusammengebracht werden – mit ihren Werken für Solobratsche.

Kim Kashkashian jung zu nennen ist keine Kavaliershöflichkeit. Jahrgang 1952? Kaum zu glauben, wenn diese Frau aufs Podium tritt. Doch seit dreißig Jahren ist sie eine der prägenden Musikerinnen einer Zunft, deren Maßstäbe sie verändert hat. Während andere Bratscher noch neidisch im 18. Jahrhundert herumspähten, in dem sie solistisch zu kurz kamen, und das 20. Jahrhundert, das sie reich beschenkt hat, nur ab und an besuchten, spielte sie gleichermaßen Brahms und Schnittke, Hindemith und Eötvös, gern auch mal spanische Gesänge, und inspirierte ihren armenischen Landsmann Tigran Mansurian zu wunderbaren Stücken wie denen für Bratsche und Percussion.

Der Offenheit entspricht jener Ton aus vielen Farben, mit dem Kashkashian auch in der stark gewachsenen Szene exzellenter Violaspieler unverwechselbar geblieben ist. Die erste, vielleicht einzige, bei der man finden kann, dass die Geige neben der Bratsche vielleicht doch ein etwas beengtes Instrument ist, und die überhaupt weniger vom Instrument herzukommen scheint als vom Gesang. Zu ihren prägenden Erlebnissen gehören die armenischen Volkslieder, die ihr Vater mit Liebe und Leidenschaft bei jeder Gelegenheit sang – auch als Verbindung zu den Wurzeln, denn er und seine Frau waren in die USA ausgewandert, Kim Kashkashian kam in Michigan zur Welt. Da drückte man der Achtjährigen eine Geige in die Hand, obwohl sie eine Klarinette bevorzugt hätte – und mit zwölf konnte sie zur Bratsche und damit immerhin ins Klarinettenregister wechseln.

Aber Solobratscher waren in den USA chancenlos. 1987 zog sie nach Europa, zuerst als Professorin nach Freiburg, dann nach Berlin, weil es nur dort eine amerikanische Schule für ihre Tochter gab, vor zwölf Jahren schließlich kehrte sie in die USA zurück – an die Ostküste, ans New England Conservatory of Music in Boston.

Bis heute aber blieb sie ECM treu, dem Münchener Label von Manfred Eicher, dessen Konzept der Entgrenzung gerade für Kim Kashkashian ein Glücksfall war. Auf einer der kostbarsten Platten des Labels, "Hommage à R.Sch." von 1995, treffen sich Werke von György Kurtág und Robert Schumann. Dessen späte "Märchenbilder" werden von Kim Kashkashian und dem Pianisten Robert Levin als verzweifelte Sehnsucht nach einer Märchenwelt hörbar gemacht, beißend und rasend, aber auch fast depressiv – am Ende trösten die Bratschentöne wie ein dunkler Engel den Pianisten in der Einsamkeit.

Demgegenüber wirken Kurtágs Miniaturen für Viola solo wie lebensrettende Konzentrate, unter Hochdruck destilliert, mit einem Drang gespielt, der die Konturen ebenso schärft wie die Akustik des Kammermusiksaals, in dem die Aufnahme damals entstand. Einige dieser Miniaturen finden sich auch in der neuen Einspielung – so wird besonders deutlich, welchen Weg Kashkashian seither ging. Sie interessiert sich jetzt mehr für den weiten Horizont als für dessen "kleinen" Rahmen, was freilich auch von der Kirchenakustik begünstigt wird, sie unterstreicht – manchmal fast zu sehr – den meditativen Aspekt dieser "Signs, Games and Messages", zeigt aber auch deutlicher, wie genießerisch – der mitunter als Spartaner geltende – Kurtág das Instrument erkundet.

Der Einsatz der vier leeren Saiten zieht sich wie ein "back to the roots" durch die Zeichen, Spiele, Botschaften, deren kürzeste nicht mal 30 Sekunden währt und mit deren längster der Zyklus anhebt wie ein Morgen-Raga. Manche Stücke zerfallen in fragende, fast traurige Seufzer wie die Notenzeilen für Vera Ligeti und John Cage. Mal wird, wie in einer Meditationsübung, nur eine Abwärtsbewegung immer neu formuliert. Und mit extremen Gegensätzen ("In memoriam Blum Tamás") wird ein Freund so porträtiert, dass man ihn fast vor sich sieht, zwischen weißglühend nach oben drängenden Dissonanzen, und einem Metrum, das mal weich pulsiert, mal hart Akzente setzt.

Im finalen "Klagelied" heult die Bratsche wahrhaftig, da verschwimmen die Kerntöne im Glissando wie unter Tränen. So passt es fabelhaft, dass gleich danach György Ligeti den Beginn seiner Sonate mikrointervallisch verzerrt. Insgesamt aber sind Ligetis sechs Sätze, zu Beginn der 1990er entstanden, verblüffend retrospektiv. Nicht regressiv, wohlgemerkt: Hier wird etwas gespiegelt.

Im "Loop" etwa Rhythmik und Harmonik des mittleren Bartók, zum Paarlauf in Doppelgriffen gedrängt. Nicht nur im "Prestissimo" lässt Hindemiths Bratschen-Solosonate von 1922 grüßen, und in der "Chaconne" kann man gar an Pfitzners fiktive Renaissance denken. Das finale H-Dur als Sextakkord ist freilich ein solches Fragezeichen, als grinse Ligeti: Macht's euch nicht zu einfach! Oder ist es open end, ein Blick in die Zukunft?

Kim Kashkashian, diese wunderbare Künstlerin, spielt so lebendig, dass selbst eine CD jedes Mal etwas anders klingt.

(RP)
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