Germanistenstreit "Kiezdeutsch ist kein Dialekt"

Düsseldorf · Diese These sorgte für Schlagzeilen: Das "Kiezdeutsch", das Jugendliche in Berliner Hinterhöfen sprechen, sei ein neuer Dialekt, behauptete unlängst die Potsdamer Germanistin Heike Wiese. Das aber sei grundfalsch, erwidert ihr nun der Bamberger Sprachwissenschaftler Helmut Glück (62) im Interview.

Für ihn ist es nur eine aktuelle Jugendsprechweise. Die jüngste Dialektthese bezeichnet er hingegen als "einigermaßen skandalös".

Die These der Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese hatte durchaus etwas Beruhigendes, dass nämlich das sogenannte Kiezdeutsch gar keine Verhunzung der deutschen Sprache sei, sondern ein neuer Dialekt.

Glück Das sehe ich deutlich anders. Weil ein Dialekt immer eine Redeweise ist, die für eine bestimmte Region charakteristisch ist und zudem eine historische Tiefe hat. So sprechen die Menschen am Niederrhein seit etwa 1500 Jahren niederfränkisch. Neuere Dialekte, die es auch gibt wie etwa das Berlinerische, existieren seit rund 500 Jahren. Das ist etwas völlig anderes als irgendeine aktuelle Jugendsprechweise wie das Kiezdeutsch. Frau Wiese versucht einfach, am Prestige des Dialekts zu partizipieren, indem sie diesen Begriff auf eine Sprechweise überträgt, die alles andere als ein Dialekt ist.

Frau Wiese verweist aber darauf, dass die grammatikalischen Regelverstöße im Kiezdeutsch sehr gezielt und stets die gleichen seien. Das soll darauf hindeuten, dass die Sprecher der deutschen Sprache noch mächtig seien.

Glück Letzteres kann man bei den jungen Leuten nur hoffen, die irgendwann die Schule verlassen und eine Lehrstelle brauchen, bei der man das Hochdeutsche in Wort und Schrift einigermaßen beherrschen sollte. So etwas kann Frau Wiese ja schlecht finden, nur ist es eben so — in Düsseldorf wie in Frankfurt und Berlin. Unsere Hoch- und Standardsprache ist ein Wert, der in Jahrhunderten entstanden ist und den man nicht einfach zur Disposition stellen kann.

Droht mit der Dialektthese von Frau Wiese die Gefahr, dass schlechtes Deutsch gleichsam salonfähig gemacht wird?

Glück Das scheint mir die Absicht von Frau Wiese zu sein, und das ist auch der Grund, warum es jetzt an der Zeit ist, einmal Tacheles zu reden. Denn ihre Thesen drücken eine Wurschtigkeit gegenüber der Funktion einer Hochsprache aus — einmal abgesehen von ästhetischen Gesichtspunkten —, die einigermaßen skandalös ist.

Was ist das Kiezdeutsch dann, nur ein Code von Jugendlichen einer bestimmten sozialen Schicht?

Glück Das ist der Fall. Und es ist ja nun auch nicht das erste Mal, dass sich eine Jugendgeneration sprachlich gegen die Elterngeneration abgrenzt; jugendliche Sprechweisen sind seit dem 18. Jahrhundert belegt. Sie hatten und haben die Funktion, sich abzugrenzen gegen die Älteren — verbunden mit einer guten Portion Angeberei.

Frau Wiese nennt das Kiezdeutsch auch einen Turbodialekt. Gibt es denn andere Fälle, bei denen das Deutsche auf eine andere Sprache getroffen ist und sehr schnell beeinflusst wurde?

Glück Da müsste man natürlich das Ruhrgebietsdeutsch nennen, das zu tun hat mit einer starken polnischen Einwanderung in den Jahrzehnten um 1900. Dieser Industriedialekt, der eigentlich mehr ein Soziolekt ist, wird heute eher im Kabarett gesprochen. Dieses Sprechen ist sozial markiert.

Welche Einflüsse sehen Sie denn beim Kiezdeutsch?

Glück Das hat eindeutige türkische und arabische Einflüsse, die sich nachweisen lassen. Dazu gehören die Verwechslungen beim grammatikalischen Geschlecht — das Türkische hat keins — sowie die Verwechslungen bei den Präpositionen, die im Türkischen ebenfalls ganz anders gestrickt sind. Solche Varianten weichen dann natürlich immer an den selben Stellen vom Standard der jeweiligen Zielsprache ab. Das ist kein Wunder, sondern erwartbar. Bei Lernprozessen von Leuten aus anderen Sprachen treten an diesen Punkten dann Schwierigkeiten auf.

Was bedeutet uns heute noch der Dialekt? Ein Stück Heimat? Martin Walser sprach einmal davon, dass ihm der Dialekt so wichtig sei wie die untergegangene Kindheit.

Glück Ich denke, dass das so ist, auch wenn das manche Linguisten belächeln. Viele Menschen verbinden Heimatgefühle auch mit dem Dialekt. Wobei das in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich ist: Nur im Süden und im äußersten Norden von Deutschland sind die Dialekte noch sehr stark.

Gibt es in Deutschland besonders viele Dialekte?

Glück Deutschland ist dialektal schon sehr stark gegliedert. Die Dialekte haben zwar auch bei uns seit dem 19. Jahrhundert abgenommen, aber sie sind noch wesentlich präsenter als etwa in Frankreich und Russland. Noch bis vor 30 Jahren sind Dialekte als Ausweis eines schwachen sozialen Status gewertet worden. Das aber hat sich in etlichen Regionen wieder deutlich gewandelt.

Welche Zukunft hat der Dialekt noch in Deutschland?

Glück Die Mitte Deutschlands — und dazu gehört auch Düsseldorf — ist dialektal am schwächsten geprägt. An den Rändern — einschließlich Sachsen — sieht es anders aus, da sind die Dialekte durchaus noch lebendig und die Menschen zweisprachig, sie beherrschen also sowohl den Dialekt als auch die deutsche Hochsprache.

(RP/pst/rm)
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