Deutsche Bischöfe stellen Leitfaden vor Die Grauzone des geistlichen Missbrauchs
Wiesbaden · Die katholische Kirche steht wieder am Anfang einer Aufklärung. Diesmal geht es um den geistlichen Missbrauch, der oft den sexuellen Missbrauch vorbereitet.
Die katholische Kirche hat ein neues Dunkelfeld des Missbrauchs in ihren eigenen Reihen markiert. Es ist schwieriger zu beleuchten als andere Gewaltformen, die Menschen durch Priester erfahren haben. Es geht um den sogenannten Missbrauch geistlicher Autorität, um spirituelle Manipulation, im schlimmsten Fall auch um Entmündigung. Was wie ein Nebenschauplatz kirchlicher Verfehlungen anmutet, gehört tatsächlich ins komplexe Umfeld des Missbrauchsskandals. Denn geistlicher Missbrauch bereitet fast immer auch den sexuellen Missbrauch vor, so der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers. Auf der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) in Wiesbaden stellte er gemeinsam mit seinen Amtsbrüdern Bischof Peter Kohlgraf aus Mainz und Bischof Michael Gerber aus Fulda einen ersten Leitfaden zum Umgang mit diesem „spezifisch kirchlichen Phänomen“ vor.
Was sich diesmal wie eine Präventivmaßnahme der Kirche anhört, ist im Grunde nur eine weitere Reaktion auf eine schon lange bekannte und immer mal wieder auch diskutierte Missbrauchsgeschichte der Kirche. Dass also die Bischöfe ihren neuen Leitfaden diesmal „ohne öffentlichen Druck“ erstellten, wie Timmerevers betonte, ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Denn es gab immer schon Zeugnisse und Aussagen über geistlichen Missbrauch, nur fand dieser in der Öffentlichkeit nur geringes Gehör. Der bekannteste Fall ist jener von Doris Reisinger, die als 19-Jährige in die geistliche Familie „Das Werk“ eintrat, dort massiv geistlichen und sexuellen Missbrauch erlitt. Sie wurde entmündigt, isoliert. Erst mit 28 fand sie die Kraft, den „Orden“ zu verlassen. Sie hat über dieses „wahre Leben“ einer Ordensfrau das Buch „Nicht mehr ich“ geschrieben. Das war 2014. Und sie hat über Formen des speziell spirituellen Missbrauchs ein weiteres Buch verfasst und begleitend ein vierstündiges TV-Interview mit dem Wiener Kardinal Christoph Schönborn geführt. Beides 2019. Ein erster Leitfaden dazu vier Jahre später ist darum erneut nur eine Reaktion auf vielfach erlittenes Leid.
Der Missbrauch geistlicher Autorität ist schwer zu fassen. Wo endet eine intensive Seelsorge, wo beginnt die Beeinflussung, die Abhängigkeit? Gibt es Grenzen im Beichtgespräch? In der seelsorgerischen Lebenshilfe? Aber nicht nur die schwierige Bestimmung, was spirituellen Missbrauch vor allem in Ordensgemeinschaften kennzeichnet, macht es beinahe unmöglich, das Ausmaß solcher Verletzungen zu benennen. In den Personalakten werden solche Taten nämlich nicht dokumentiert, auch ist geistlicher Missbrauch weder im Kirchenrecht noch im öffentlichen Strafrecht als Tat bekannt.
Die Kirche steht wieder einmal am Anfang einer Aufklärung ihrer Taten. Begleitet werden diese von der Uni Münster mit einer dreijährigen Studie, die neben der „Christusgemeinschaft“ vor allem „Totus Tuus Neuevangelisierung“ (ganz dein) im Blick hat, die 2004 in Münster gegründet wurde und längere Zeit kirchenrechtlich als geistliche Vereinigung anerkannt war. 2021 entzog der Münsteraner Bischof Felix Genn „Totus Tuus“ dann die Anerkennung, der sektenähnliche Strukturen attestiert werden. Es gibt aus dem Erzbistum Köln zwei Priester in Düsseldorf, die ihre spirituelle Heimat in dieser Gemeinschaft haben. Sie wurden vom Kölner Erzbistum angewiesen, ihr Wirken in den Pfarren vom Engagement für Totus Tuus zu trennen.
In drei Jahren soll der Leitfaden nach ersten Erfahrungen und mit den Erkenntnissen der Studie überarbeitet werden. Vielleicht dann mit noch stärkerer Stimme, da einer seiner Mitautoren, Bischof Gerber, als Nachfolger des früheren Osnabrücker Bischofs Franz-Josef Bode zum neuen stellvertretenden DBK-Vorsitzenden gewählt wurde.