Berlin Kafkas Briefe an Ottla werden versteigert

Berlin · Der Lebenslauf dieses Dichters ist eine der tragischen Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Franz Kafkas (1883 bis 1924) persönliche Aufzeichnungen, die Tagebücher und Korrespondenzen, beglaubigen diese ungeheure Biografie, die inneren Kämpfe, das Einwirken der Historie. Man lese die "Briefe an Felice", ein 700-seitiges Werben und Wollen und Scheitern, ein Dokument von vergleichbarem Rang wie der Roman "Der Process". Nun steht ein anderes wichtiges biografisches Zeugnis zum Verkauf, Kafkas Briefe an die Lieblingsschwester Ottilie, genannt Ottla. Im April sollen die 111 Autographen, die im Besitz der Enkel Ottlas sind, im Berliner Auktionshaus Stargardt versteigert werden. Schätzpreis 500 000 Euro, den Zuschlag erwarten Experten bei 800 000 Euro.

Ein klarer Fall für das Literaturarchiv in Marbach, sollte man meinen, denn das Haus besitzt gemeinsam mit der Bodleian Library Oxford die größten Kafka-Bestände. Das Institut wird indes wohl nicht mitbieten, man habe das Konvolut vorab sogar angeboten bekommen, doch der Preis sei zu hoch, heißt es. Womöglich hat sich Marbach mit dem Ankauf des Suhrkamp-Archivs verausgabt, das angeblich acht Millionen Euro teuer war. Nun droht den Briefen an Ottla also dasselbe Schicksal wie den Briefen an Felice Bauer: Sie könnten in einer Privatsammlung verschwinden – der Verbleib der Korrespondenz Kafkas mit seiner Verlobten ist seit ihrer Versteigerung unbekannt.

Den schönen und intensiven Briefwechsel mit der neun Jahre jüngeren Schwester, die 1943 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, gaben Hartmut Binder und Klaus Wagenbach 1974 erstmals heraus. Kafka hatte in Ottla eine Vertraute, ein Vorbild gar, die mutiger als er gegen die Eltern aufbegehrte und ihre Freiheit einforderte. Als sie sich heimlich ein kleines Zimmer in Prag nahm, hatte er dort nachts die produktivsten Schreibphasen. Ottla gegenüber öffnete er sich, zeigte sich unverschlossen wie sonst selten. So berichtete er 1917 von der Diagnose, die der Arzt verniedlichte mit dem Begriff "Lungenspitzenkatarrh". Kafka schrieb: "Das ist ein Wort, wie wenn man zu jemandem Ferkel sagt, wenn man Schwein meint." Es war Schwindsucht. Kafka starb sieben Jahre später.

(RP)
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