Interview mit Julian Nida-Rümelin "Jede Staatlichkeit verlangt Grenzen"

München · Der Philosoph Julian Nida-Rümelin fordert, Europa zu einer wirklichen demokratischen Union zu machen – mit funktionierenden Außengrenzen.

 Julian Nida-Rümelin war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder.

Julian Nida-Rümelin war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder.

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Der Philosoph Julian Nida-Rümelin fordert, Europa zu einer wirklichen demokratischen Union zu machen — mit funktionierenden Außengrenzen.

Theoretische und angewandte Ethik ist das Spezialgebiet des Philosophen Julian Nida-Rümelin. Der frühere Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) warnt davor, der Staat könnte seinen Bürgern in der Flüchtlingsfrage überfordert erscheinen.

Ist Deutschland moralisch verpflichtet, auch dann Flüchtlinge aufzunehmen, wenn das den Interessen des Staates widerspricht?

Nida-Rümelin Ja, die Interessen Deutschlands können in der Frage nicht allein ausschlaggebend sein. Es gibt darüber etwas, das schon Kant ein "allgemeines Hospitalitätsrecht" genannt hat. Das besagt, dass alle Bürger, die ihren Staat aus welchen Gründen auch immer verlassen, darauf hoffen dürfen, in einem anderen Staat aufgenommen zu werden. Das sorgt für einen humanitären Wettbewerb zwischen den Republiken.

Es geht doch eher darum, dass wenige privilegierte Einwanderungsländer auswählen wollen, wen sie aufnehmen. Ist das ethisch vertretbar?

Nida-Rümelin Deutschland hat aufgrund des demographischen Wandels ein massives Interesse an Einwanderung, um seine sozialen Systeme aufrechtzuerhalten. Der Bedarf bewegt sich bei einigen 100.000 Einwanderern pro Jahr. Darum war es politisch eine große Eselei, nicht rechtzeitig ein Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen. Die SPD ist das Gesetz zu spät angegangen, die CDU hat es blockiert, und nun fällt uns das Versäumnis auf die Füße, denn es fehlen die Mittel, um Zuwanderung steuern zu können.

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Nach welchen Kriterien sollte diese Steuerung geschehen?

Nida-Rümelin Deutschland hat ein legitimes Interesse, bestimmte Fachkräfte aufzunehmen, auch auf das Alter und ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu achten. Dass derzeit überwiegend junge Männer ins Land kommen, ist keine gute Entwicklung. Es besteht also nach wie vor die Aufgabe, ein Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen. Allerdings muss man wissen, dass es daneben die völkerrechtliche Verpflichtung gibt, Menschen in Not aufzunehmen. Deutschland hat die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben, das ist also eine verbindliche Norm. Und die kann nicht ersetzt werden durch die Zuwanderung von Menschen, die nach ökonomischen Kriterien ausgewählt wurden.

Sie leben in München, haben die "Willkommenskultur" entstehen sehen. Müssen wir nach den Ereignissen in der Silvesternacht feststellen, dass das alles naiv war?

Nida-Rümelin Nein, Amtsvertreter geben offen zu, dass das öffentliche System ohne diese freiwillige Hilfe zusammengebrochen wäre. Es ist also reine Polemik, denen, die sich für Flüchtlinge engagieren, vorzuwerfen, sie hätten die Menschen gewissermaßen angelockt. Es gab eine politische Entscheidung, aus dem Dublinverfahren auszusteigen und die Aufnahme unabhängig zu gestalten. Das war unklug. Man kann natürlich in einer Notsituation so reagieren und offensichtlich war die Kanzlerin der Meinung, es habe diese Notsituation gegeben. Aber das beruhte auf einer Fehleinschätzung. Denn es ging nicht darum, kurzfristig einen Stau an der österreichischen Grenze zu beheben, sondern es ging um einen gewaltigen und anhaltenden Flüchtlingsstrom. Das haben die Berater der Kanzlerin offenkundig falsch eingeschätzt.

Und der Strom reißt nicht ab, welche Reaktion empfiehlt der Ethiker ?

Nida-Rümelin Ich habe keine Agenda der Flüchtlingspolitik in der Tasche. Aber ich glaube, es ist hoch brisant, wenn die Bürger den Eindruck bekommen, dem Staat entgleite da etwas. Auch den anhaltenden Fatalismus bei Merkel halte ich für gefährlich. Natürlich gibt es dafür taktische Gründe. Sie muss fürchten, dass feste Ziele wie Obergrenzen gesetzt werden. Denn dann müsste sie sich daran messen lassen. Doch so erlebt der Bürger einen überforderten, auf internationale Solidarität hoffenden Staat, und das ist für viele angsteinflößend.

Merken wir jetzt, dass die Idee eines Nationalstaats ohne Grenzen im Gebilde der Europäischen Union untauglich ist?

Nida-Rümelin Diese Idee hat niemand vertreten. Jede Staatlichkeit verlangt Grenzen, denn dort endet die Wirksamkeit ihrer Gesetze. Das ist auch im europäischen Rahmen so. Wo die Staaten nicht zuständig sind, gibt es abgestimmte Gesetze auf europäischer Ebene, aber an der EU-Außengrenze ist auch damit Schluss. Das hat einheitsstiftende Funktion und ist Voraussetzung für Demokratie. Eine demokratisch verfasste Gemeinschaft verabschiedet Gesetze, aber natürlich gelten diese nur für diese Gemeinschaft. Interessanterweise ist es eine unheilige Allianz von Neoliberalen und linken Kräften die das anders sieht. Die Wirtschaftsliberalen betrachten nur die Märkte und möchten, dass die Güterströme an den Grenzen nicht haltmachen müssen. Und die linke Variante ist zu sagen, es darf keine Grenzen für Menschen geben. Das bedeutet aber auch nichts anderes als die Liberalisierung des Arbeitsmarkts - mit Nivellierungstendenzen. Auf einmal konkurrieren Gehälter in Deutschland mit denen in Bangladesh, natürlich würde das alle sozialen Standards mit einem Male wegwischen. Das kann man auch nicht ernsthaft wollen.

Müssen wir zurück zu nationalstaatlichen Grenzen innerhalb Europas?

Nida-Rümelin Es gibt zwei Strategien. Man könnte Europa zu einer wirklichen demokratischen Union machen, vielleicht mit einem Zwei-Kammersystem, vor allem aber mit einer echten europäischen Regierung, die man auch abwählen kann. Und weil es in Europa unterschiedliche Integrationsstufen gibt, müsste es Abstufungen der Mitgliedschaft geben, etwa was die Währungsunion angeht. Der andere Weg wäre, den schon erreichten Europäischen Zentralismus wieder abzuwickeln und den Föderalismus der Nationalstaaten wieder zu stärken. Das würde bedeuten, die Währungsunion aufzulösen und die nationalen Politiken zu stärken. Das wäre nicht das Ende der EU, es könnte etwa eine gemeinsame Außenpolitik, einen EU-Binnenmarkt und einen Rechtsrahmen geben. Es stimmt nicht, wenn Merkel sagt: Scheitert der Euro, scheitert Europa. Lieber wäre mir trotzdem der erste Weg.

Es stünden trotzdem Syrer, Marokkaner, Libyer vor den Toren Europas.

Nida-Rümelin Ja, aber sie stünden vor einer funktionierenden Außengrenze oder vor einer Vielzahl funktionierender Ländergrenzen. Der Durchmarsch von der Türkei bis Schweden wäre nicht möglich.

Mit Julian Nida-Rümelin sprach Dorothee Krings.

(dok)
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