Juli Zeh probt den Wahnsinn

Juli Zeh (36) hat ein neues Theaterstück geschrieben. Darin wacht ein Mann in einem Raum auf – umgeben von lauter Fremden, die behaupten, seine Familie zu sein. Doch das Zimmer dient einem grausigen Zweck. Karfreitag wird "203" am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt.

Nachdem Sie mehrere Romane veröffentlicht haben, ist "203" nun Ihr viertes Drama. Warum schreiben Sie für das Theater?

Juli Zeh Das scheint süchtig zu machen (lacht). Ich habe gemerkt, dass ich gesellschaftliche und politische Anliegen für die Bühne deutlicher und direkter ausdrücken kann als in Prosatexten.

Woran liegt das?

Zeh Diese Frage stelle ich mir auch. Ich glaube, es liegt an der Schreibhaltung. Wenn ich für die Bühne schreibe, denke ich schon an die mündliche Form und halte deswegen eine direkte Ansprache eher für möglich als bei Prosatexten, die bei mir immer abstrakter, komplizierter und vermittelter sind. Auf der Bühne ist es leichter, einfach mal direkt eine Meinung zu sagen.

Welches Anliegen verfolgen Sie in "203"?

Zeh Auf der äußersten Deutungsebene geht es in "203" wieder um die Fragen: Was hat Sicherheit mit Freiheit zu tun? Werden diese Begriffe miteinander verwechselt, stehen sie sich gegenseitig im Weg, brauchen sie einander, was ist das Wichtigere von beidem?

Diesmal stellen Sie diese Fragen in einer Geschichte mit starken Science-Fiction-, Thriller- und sogar Horrorelementen. Wollten Sie mal ein neues Genre ausprobieren?

Zeh Suspense-Strukturen verwende ich eigentlich immer – aus persönlicher Neigung. Wenn ich ein Buch lese, ins Theater gehe oder einen Film sehe, will ich auch gepackt und unterhalten werden. Ich will, dass man mich mitnimmt, deswegen versuche ich auch selbst so zu schreiben.

Diesmal lassen Sie einen jungen Mann in einer Art Gefängniszimmer aufwachen. Er glaubt seine Identität zu kennen, doch die fremden Menschen im Raum behaupten, er sei Teil ihrer Familie – ein Albtraum, oder nicht?

Zeh Ja, das ist ein schreckliches Szenario. Die Figur muss überlegen: Spinnen die oder spinne ich? Ich würde in dieser Situation wahrscheinlich sofort glauben, dass ich wahnsinnig geworden bin, und das ist der totale Albtraum.

Sie scheinen dem Selbstbewusstsein des Menschen nicht weit zu trauen?

Zeh Nein, darum geht es nicht. Mich beschäftigt die Erkenntnis, dass das, was wir unser Ich nennen, größtenteils auf falschen Erinnerungen beruht. Unser Ich ist ein narrativer Apparat, der sich aus Erzählungen zusammensetzt, die mit der ursprünglich erlebten Wirklichkeit ziemlich wenig gemeinsam haben. Das ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen. Diese Diskrepanz zwischen dem, was wir glauben und was wir dann auch unsere Persönlichkeit nennen, und dem, was vielleicht eine objektive Wahrheit wäre, das fasziniert mich sehr. Denn das Ergebnis ist, dass wir alle unsere eigenen Figuren sind und uns alle dauernd gegenseitig Geschichten erzählen. Es geht also auch um Virtualität.

Das fasziniert Sie als Künstlerin, nehme ich an. Politisch würde das ja heißen, dass alles relativ ist.

Zeh Politische Konsequenzen würde ich daraus nicht ziehen, mir geht es um die erkenntnistheoretischen Aspekte. Da geht es um ganz existenzielle Fragen. Etwa, was können wir wissen über die Welt und über uns selbst?

Aber Ihr Stück handelt von einem ohnmächtigen Menschen in einem Zwangsapparat. Das kann man doch auch politisch lesen, oder?

Zeh Es handelt vor allem von einem Zwangsapparat, der vorgibt, keiner zu sein. Mich interessiert, wie sich in unseren modernen Gesellschaften die Kontrollmechanismen die früher wesentlich durch Zwang, Gewalt und Willkür gesichert wurden, in etwas umwandeln, das eher über Fürsorge, Service und vor allem das Versprechen von Sicherheit funktioniert. Meine Figuren befinden sich ja in einer Situation, die sie selber als sicher definieren. Sie versichern sich ständig gegenseitig, dass sie nicht eingesperrt sind und das alles nur zu ihrem Besten geschieht, weil man die Gefahren ja aussperren muss. Der Zuschauer muss sich aber die Frage stellen, sind die Gefahren ausgesperrt oder sind die Figuren eingesperrt?

Wie in Ihrem Stück "Corpus delicti" warnen sie also auch davor, dass Systeme unmerklich in Diktaturen kippen können?

Zeh Ich glaube, dass Demokratie und Freiheit immer bedroht sind. Man kann diese Errungenschaften nicht in Stein meißeln, sondern das sind Prozesse, zu denen wir uns immer wieder kritisch verhalten müssen, das ist das Lebenselixier der Demokratie. Unser Problem ist, dass wir nach Gefahren immer in der Vergangenheit suchen. Wir sehen, was in der Vergangenheit Schreckliches passiert ist, und versuchen, genau das zu verhindern. Gefahren nehmen aber immer neue Gestalt an. Deswegen versuche ich den Blick dafür zu schärfen, dass die Feinde freiheitlicher Systeme nicht mehr in nationalsozialistischen Uniformen zu uns kommen, die sehen heute ander aus und funktionieren auch anders.

Welche Uniformen tragen die Freiheitsfeinde heute?

Zeh Sie haben auf jeden Fall Verkäuferanzüge an. Ob darin dann Politiker, Wirtschaftsbosse oder Werbefachleute stecken, ist egal. Die Gefahr liegt in Formeln wie "Wir sorgen uns doch nur um Eure Sicherheit oder Gesundheit". Das klingt freundlich, wie im Kundengespräch, aber es geht um Verhaltenssteuerung.

Fühlen Sie sich einsam mit Ihren Mahnrufen gegen den Sicherheitswahn?

Zeh Ich greife dieses Thema in der Tat immer wieder auf, weil ich das Gefühl habe, dass es sonst keiner tut. Es geht beileibe nicht darum, Kassandra zu spielen und Recht zu behalten, sondern darum, das kritische Denken nicht aufzugeben. Ich würde mich gern auch wieder privateren Themen zuwenden, wenn ich das Gefühl hätte, es gäbe einen ernsthaften Diskurs in diese Richtung. Im Moment sehe ich das aber nicht.

(RP)
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