Düsseldorf Jugendliche verlernen das Erzählen

Düsseldorf · Viel Jugendliche haben Schwierigkeiten, Erlebtes spannend wiederzugeben. In sozialen Netzwerken tauschen sie kurz ihre Befindlichkeiten aus, lange Berichte sind nicht gefragt. Das könnte Folgen haben: Selbstreflexion fußt auf der Fähigkeit, sich das eigene Leben zu erzählen.

Einer der seltenen warmen Strandtage dieses Sommers: Der Sand duftet nach Sonne, ein junges Mädchen kehrt zurück von der Eisbude, lässt sich neben die Freundin plumpsen. Erfolgreicher Pirschgang: Jonas war auch in der Bude. Erwartungsvoll zupft die Bekannte auf der Strohmatte die mp3-Stöpsel aus dem Ohr. Doch die Freundin malt ihr nun keine Szene aus, macht aus ihrer Begegnung kein Abenteuer, schildert keine Mini-Romanze. Stattdessen ungefilterte Wiedergabe eines Dialogs: "Sag ich . . .", "sagt Jonas . . .", "sag ich . . ." Keine Dramaturgie, keine Pointe, keine Geschichte.

Belauscht man Jugendliche bei ihren Unterhaltungen, ist es oft, als schalte man in eine dieser Vorabend-Soaps, in denen auch nur Dialogszene an Dialogszene geheftet wird, ohne dass viel passiert. Ab und zu reißt mal ein Autounfall eine der Figuren aus dem Serienleben. Dann können die Hinterbliebenen darüber weiterreden – sagt er . . ., sagt sie . . . Geschichten erzählt man anders, aber das fällt nicht auf. Es wird ja gesprochen.

Auch das andere Lieblingsformat jugendlicher Zuschauer, die Casting-Show, unterhält nach einem seriellen Schema: Model-Anwärterinnen lösen Aufgaben, werden bewertet, fliegen aus der Show – das ist Ritual, nicht Narration, erzählerische Überraschungen sind nicht zu befürchten.

Doch vor allem ist es wohl das soziale Netzwerk Facebook, das Einfluss nimmt auf die Art, wie Jugendliche sprechen. "Als man sich noch Briefe schrieb, hat man das Geschehen einer Woche in eine Geschichte gefasst", sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Mitbegründer des Kölner Marktforschungsinstituts Rheingold, das 2010 eine große Jugendstudie vorgelegt hat, unter anderem über das Kommunikationsverhalten junger Menschen. "Bei Facebook geht es darum, mit wenigen Andeutungen ein Update zur eigenen Befindlichkeit zu liefern. Die Jugendlichen sind ohnehin ständig in Kontakt, sie müssen keine chronologischen Berichte verfassen, sondern schnell den Status ihrer Verfasstheit vermitteln." Das geht mit wenigen Worten, Smileys, Comicsprache, einem "geil" oder "boah".

Grünewald sieht in sozialen Netzwerken allerdings keine Verarmung, sondern nur eine Veränderung von Kommunikation. "Solche Netzwerke bieten neue Möglichkeiten, Geschichten von sich zu erzählen – Jugendliche betreiben dort keine Persönlichkeitserforschung im Stile von Goethes Werther, sondern entwerfen ein Bild nach Patchwork-Logik", so Grünewald. Bei Facebook ergibt sich das Selbstporträt aus kurzen Angaben darüber, was man liebt oder hasst, aus Fotos, in denen man sich in bestimmten Situationen präsentiert, aus dem Freundeskreis, der auf der eigenen Seite vermerkt ist, aus Kommentaren auf deren Seiten. Um sich in sozialen Netzwerken gut zu präsentieren, muss man präzise und schlagfertig sein, Humor beweisen.

Kaum gefordert ist dagegen die Kunst, Erlebtes spannend wiederzugeben, es in eine Geschichte zu verwandeln mit überlegter Dramaturgie. Dabei ist diese Fähigkeit eine der ältesten Kulturtechniken überhaupt: "Erzähle mir, Muse " – so beginnt die "Odyssee". "Man hat mir erzählt" lauten die ersten Worte des "Hildebrandsliedes". Und in den ersten Zeilen des Nibelungenliedes heißt es: "Viel Wunderdinge melden die Mären alter Zeit . . ."

Doch wird in unseren Tagen wenig dafür getan, die Kulturtechnik des Erzählens zu pflegen. Schulen wie Universitäten stehen unter Effizienzdruck, die Quantität der Informationsvermittlung ist wichtiger als die Form. Auf dem Buchmarkt machen Autoren wie Charlotte Roche Furore, die ihre Gedanken einfach niederschreiben, wie sie plappern. Ihre Texte stimmen den Sound der Zeit an, der zu cool ist für erzählerisches Pathos. Autoren, die von Fabulierlust gepackt werden, bei Lesungen gar das Gedruckte beiseite schieben, sich von der eigenen Geschichte treiben lassen und frei erzählen wie Rafik Schami, sind die Ausnahme. Und Schami stammt aus Syrien.

Dabei ist Literatur seit jeher Sprachspenderin für das Nachdenken über uns selbst. Selbsterkenntnis fußt auf dem Vermögen, die eigene Biografie in Worte zu fassen, sich selbst etwas über das eigene Leben zu erzählen. Literatur liefert Formulierhilfen dafür, kann Leser, die festgefahren sind im Nachdenken über sich selbst, auf neue Wege führen. Und diese Selbstreflexion durch inneres Erzählen kann heilsame Wirkung haben, darauf baut die Psychoanalyse. Es könnte also Folgen haben, wenn der Generation Twitter die Worte dafür ausgehen.

Und das gilt nicht nur für das Individuum. Auch Gesellschaften brauchen Erzählungen, Mythen, in denen bewahrt ist, was der Gemeinschaft wichtig erscheint. "Derzeit gibt es aber nur noch Schwundstufen solcher gesellschaftlicher Epen", sagt Christian Schüle, Autor des Buches "Vom Ich zum Wir". "Die deutsche Gesellschaft unterhält sich leider hauptsächlich über Fußball, Kriminalität und Sexualität, dabei müssten wir dringend über Gemeinwohl, Gerechtigkeit, einen neuen Gesellschaftsvertrag diskutieren – aber das klingt natürlich nicht so sexy."

Schüle hat darum nach Menschen gesucht, die mit ihm über neue Narrative für Deutschland nachdenken wollen und die Gruppe "Denker für morgen" gegründet, die inzwischen bei der Konrad-Adenauer-Stiftung angesiedelt ist. "Wir könnten uns in Deutschland zum Beispiel darauf verständigen, dass wir unsere ganze Kraft in Ausbildung investieren, damit Menschen, egal welcher Herkunft, eine Chance in diesem Land bekommen", sagt Schüle. "Wir könnten uns vom Streben nach Gemeinwohlstand erzählen – das wäre doch eine schöne Erzählung."

(RP)
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