Düsseldorf "Jugend musiziert" – von beiden Seiten

Düsseldorf · Der berühmte Musikwettbewerb feiert Jubiläum: Er wird seit 50 Jahren ausgetragen. Unser Musikkritiker hat ihn von beiden Seiten erlebt: als junger Pianist mit durchaus schwankendem Erfolg, später viele Male als Juror.

Düsseldorf: "Jugend musiziert" – von beiden Seiten
Foto: privat/Schaller

Ich war nervös, gleich würden meine Finger mit Aquaplaning zu kämpfen haben. Sie würden ins Rutschen geraten, stolpern oder sich verirren, sie würden ein Eigenleben führen, von jeder Steuerung abgekoppelt. Trotzdem, irgendwo in diesem Saal würde jemand applaudieren, und dann würde ich abtreten von diesem unwirtlichen Ort – mit dem Gedanken, dass zu Hause am Klavier alles viel einfacher war und sich sorgenfreier anhörte. Dort konnte man auch wieder logisch denken und sich fragen: Wo kommt eigentlich dieses Wasser aus dem Körper her – unter den Achseln, auf der Kinderbrust, überall? Und was machte dieses Herz so klopfen?

In der ersten Reihe saß die Jury – grauhaarige ältere Herren, die mit Kugelschreibern oder Bleistiften Eintragungen machten und Zahlenkolonnen notierten; seitlich saß eine Dame, die Listen führte. Es war mein erster Auftritt bei "Jugend musiziert" im Jahr 1973, und ich war zwölf. Jetzt feiert dieser glänzend organisierte Musikwettbewerb Jubiläum: Er besteht seit 50 Jahren. Schon damals ging es uns so, als könne man ihm nicht entgehen. So war es auch. An Noten hatte ich Mozart, Bach und Prokofieff dabei.

Wie mir die Juroren nachher im sogenannten "Beratungsgespräch" sagten, habe ihnen mein Bach überaus gut gefallen, der Mozart sei jedoch etwas hart geraten, und bei Prokofieff hätten Spielfehler gestört. Ich hingegen fand mich ganz furchtbar, wohlweislich war ich allein zum Vorspiel geschlichen, ohne Eltern, ohne Lehrer, keiner wusste von dem Termin, ich wollte es hinter mich bringen. Als ich abends eine überraschend schöne Urkunde bekam, war ich umso stolzer. War ich doch gar nicht so übel? Dass ich später selbst häufig als Juror bei "Jugend musiziert" in der ersten Reihe sitzen sollte, konnte ich nicht ahnen. Für uns wirkten die Juroren so unerreichbar, als gingen sie zum Schlafen in die Walhalla. Götter in Grau, die sich für Sekunden ihrer kindlichen Delinquenten erbarmten und uns über den Scheitel streichelten (damals, als das noch erlaubt und unanstößig war).

Schon früh war der junge Wettbewerb "Jugend musiziert" eine Institution, eine Instanz, kurz hinter dem Schuldirektor. Bei uns musizierenden Kindern genoss er einen unterschiedlich sympathischen Ruf. Gewiss war er staatlich geförderte Erziehungsmaßnahme jener Schüler, die durch die laue Südsee ihres Unterrichts trieben und endlich ein Ziel vor Augen bekommen sollten. Anderen Kandidaten diente er als Kampfsportart, mit der sich die Selektion von Guten und Schlechten, vor allem aber die Tilgung der Konkurrenz betreiben ließ. Einige Zöglinge sahen in der Tat verbissen aus, wenn sie schwere Kaliber von Liszt wählten, und manche Eltern schauten nicht minder grimmig. Anderen Vätern und Müttern war "Jugend musiziert" die Gelegenheit der öffentlichen Fruchternte, bei der es vornehmlich ums Schwellen der eigenen Brust ging. Andere Eltern sahen die Sache pragmatisch: Hat sich der ganze Unterricht für das Kind eigentlich irgendwie gelohnt?

Früh wurde uns beigebracht, wie wichtig "Jugend musiziert" für die Persönlichkeitsentwicklung sei. Man lerne, wo man stehe, bekomme Maßstäbe an die Ohren, werde selbst zu einer Koordinate im musikalischen Wertesystem. Das ist alles richtig. Aber einen menschenverbindenden, humanistischen Aspekt hat "Jugend musiziert" nicht, vor allem nicht in den Solo-Wettbewerben. Kaum je hat man Teilnehmer miteinander reden, geschweige denn einander gratulieren oder trösten gesehen. Noch heute kommen sie allein oder mit Eltern, Oma und Lehrerin, spielen sich irgendwo in einem Musikschul-Kämmerlein ein, stehen zwei Minuten vor dem Auftritt auf der Matte und lassen sich erst wieder sehen, wenn abends die Punkte und Preise verkündet werden.

In den Gruppenwertungen indes erlebt man Teamgeist, kollektive Motivation, gemeinsames Bangen, einträchtige Freude oder Tränen. Ich kann das bestätigen: Als ich damals, einige Jahre später, einen jungen Cellisten am Klavier begleitete, waren wir die Besten in der Stadt und durften "mit hervorragendem Erfolg" zum Landeswettbewerb. Dort landeten wir dann unter ferner liefen. Egal, im Duo zu spielen bedeutet Halbierung von Nervosität und Verdopplung von Herzlichkeit. Klavier solo aber ist öffentliche Arena – und wer dieses Kolosseum gar auf Bundesebene mehrmals überlebt und sogar gewinnt, kann mit dem Gedanken an eine Karriere schon einmal liebäugeln.

Das Amt eines Jurors bei "Jugend musiziert" wiederum ist nichts für Leute, die ihre Minderwertigkeitskomplexe frisieren wollen. Man sitzt da nämlich samstags von 9.30 Uhr bis sonntags um 18.15 Uhr mit kurzen Pausen, hört gefühlte 70 Mal das gleiche Prélude von Chopin, droht gelegentlich wegzunicken, wenn ein allenfalls mittelmäßig begabtes Kind Stücke vorträgt, die vier Nummern zu schwer sind.

Aber es gibt auf der anderen Seite auch Momente, da man mit dem ersten Ton jäh erwacht und ein ganz, ganz großes Talent erlebt. Mit solchen Kindern fiebert man, sie mögen nicht einbrechen. Wenn es dann doch passiert, dass einer rausfliegt, gibt es tief innen auch im Juror ein Gefühl von Schmerz. Von Hilflosigkeit. Er kennt das. Wie gerne würde er helfen. Aber die da unten müssen es alleine schaffen.

Das ist die erste Botschaft: es allein da vorne schaffen. Ohne Mama und Papa. Wenn sie klatschen, ist es gut. Wenn nicht, macht es auch nichts. "Jugend musiziert" macht jeder nur für sich. Rausfliegen ist keine Schande, und die Welt geht nicht unter – das ist die zweite Botschaft.

(RP)
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