„Jugend musiziert“ beginnt Die Leiden der jungen Künstler
Düsseldorf · In dieser Woche findet wieder der Wettbewerb „Jugend musiziert“ statt. Manche schaffen ihr Programm nur unter Schmerzen. Das muss nicht sein.
Die Luft wird dünn, der Schweiß rinnt, das Deo versagt, Turnschuhe quietschen, Knickse und Diener erscheinen ungelenk – und ist das Instrument überhaupt mein Freund? Oder wurde es erbaut, um mich scheitern zu lassen?
So ungefähr musiziert Jugend manchmal bei „Jugend musiziert“, und das Publikum darf sich freuen, aber auch ein wenig mitleiden. Natürlich ist das eine famose Leistungsschau und Positionsbestimmung. Man sieht stolze Eltern und Großmütter. Doch manches Kind geht tatsächlich unter Schmerzen zum Wettbewerb. Hinter der Anstrengung, dem Lampenfieber und den Nerven, die auch Kinder zeigen, verbirgt sich zuweilen monatelange Quälerei.
Vor dem Wettbewerb steht zuweilen ein anderer Schweiß, es ist weniger die Aufregung, sondern die physische Anstrengung in der Vorbereitungsphase. Solch ein Klavier- oder Bläserprogramm hat ja eine nicht zu unterschätzende körperliche Seite, und nicht jedes Kind besitzt die Unerschütterlichkeit eines Modellathleten. Vom gesunden Musizieren und physiologisch sinnvollen Üben haben manche Lehrer erstaunlich wenig Ahnung. Wo das endet, wissen die Musikerambulanzen etwa an den Universitätskliniken (in Berlin, Düsseldorf, Freiburg oder München). In manchen Monaten ist jeder fünfte Patient unter 18 Jahre alt. Sehr oft lautet die Diagnose: Überlastungssyndrom.
Kein Wunder. Manches Kind fährt vor „Jugend musiziert“ seine Übefrequenz deutlich hoch, die Stücke sollen ja wie im Schlaf sitzen, doch oft ist es ein Kampf mit den Noten, wenn die Werke zu schwierig sind und ihre Tücken zu erkennen geben. Dann dringen die jungen Leute gar nicht zur Musik vor, weil sie noch mit den Elementen beschäftigt sind.
Gibt es Regeln, die Eltern und Lehrer beachten sollen, damit Kinder gesund und vergnügt aus dem Wettbewerb herauskommen und auch vorher nicht leiden müssen? Ja. Sie beginnen damit, dass Kinder nie Werke ihres „Jugend musiziert“-Programms erst in der Vorbereitungsphase erlernen sollten. In einem Musikstück muss man sich auskennen wie in seinem Kinder- und Jugendzimmer. Man muss es seit vielen Wochen lieben. Manche junge Pianistin hat eine fast körperlich auffällige Aversion gegen ein Werk des 20. Jahrhunderts. Dass sie dann maximal verkrampft über der Klaviatur hockt und in den Tasten stochert, ist zwangsläufig.
Ein Stück erlernt man, indem man es immer wieder betritt und geistig durchdringt. Doch sollten alle wissen, dass 60 Minuten Üben am Stück in der Regel nicht nur zu lang, sondern auch kontraproduktiv sind. Nach etwa 20 Minuten ist der Arbeitsspeicher im Gehirn gefüllt und möchte Daten auf die Gedächtnis-Festplatten transferieren: in das semantische und das prozedurale Gedächtnis. Das semantische enthält Wissensrationen: Wurzel aus neun ist drei, die Hauptstadt von Österreich ist Wien, die Dominante von Fis-Dur ist Cis-Dur. Das prozedurale Gedächtnis hat sich unauslöschlich motorische Abläufe gemerkt: das Aufstehen aus der Badewanne, die Schrittfolge beim Cha-Cha-Cha oder das Greifen einer Oktave auf dem Klavier.
Wer nun während des Speichervorgangs weiterübt, der überschreibt gute gelernte Informationen durch schlechtere Informationen. Die Aufmerksamkeit sackt in dieser Phase in ein Loch, das hat das Gehirn so reguliert, weil es ja für das Speichern Energie benötigt. Deshalb sollten alle „Jugend musiziert“-Kandidaten mit Stoppuhr arbeiten. Höchstens 20 Minuten üben, dann auf die Toilette, etwas trinken, ein paar Matheaufgaben machen, mit Freunden chatten – und dann erst weiterüben. Nun können sie bereits direkt auf jene tieferen Gedächtnisareale zugreifen. Zwei Stunden am Klavier, auf kleine Päckchen umverteilt, sind auf diese Weise kein Problem. Vor allem trainiert sich niemand ins Überlastungssyndrom hinein; dessen (weitaus bekannteres) Synonym ist die chronische Sehnenscheidenentzündung.
Der angelsächsische Begriff umschreibt das Problem: Repetitive-Strain-Injury-Syndrom. Manche hakelige Stelle übt man wie in der Dauerschleife immer wieder, um sie auf Tempo zu bringen. Diese permanenten Wiederholungsattacken können die Muskeln, Sehnen und Bänder eines Musikers aber regelrecht einfrieren lassen. Hingegen wird Geschwindigkeit am klügsten dadurch erreicht, dass man vorher in äußerster Zeitlupe übt. Hierbei gelingt auch die Klangkontrolle besser. Wer in Zeitlupe übt, speichert Informationen in höchster Korrektheit – und kann sie später deutlich besser abrufen.
Sodann: die Haltung am Instrument. Manche Lehrerin schwört auf die Idealeinstellung, die per Zollstock vermessene Position des Kindes an Cello, Harfe oder Gitarre. Dabei wissen die Musikermediziner längst, dass Abwechslung viel besser und gesünder ist. Man darf auch mal im Liegen geigen. Oder auf niedrigem Stuhl Klavier spielen (wie Glenn Gould). Alles, was den Körper mobil hält, ist gesünder als die angeblich optimale, aber einseitige Haltung.
Der klassische Fehler beginnt oft bereits vor dem Üben: mit dem mangelhaften Aufwärmen. Usain Bolt pflegte nie einen 100-Meter-Lauf als Vorbereitung für einen 100-Meter-Lauf zu absolvieren. Er stretchte sich, dehnte sich – wobei manche junge Geigerin dermaßen laxe und hypermobile Bänder hat, dass sie eher nicht dehnen, sondern kräftigen sollte. Kein Vorbild sind Orchestermusiker, die sich auf „Lohengrin“ vorbereiten, indem sie im Stimmzimmer angeblich zum Aufwärmen fiese Sevcik-Etüden spielen. Einige Yoga-Übungen sind dagegen ideal, auch in jungen Jahren – und Sport als Ausgleich sowieso.
Der liebe Gott hat, als er den Menschen erschuf, nicht an ergonomisch ungünstige Musikinstrumente gedacht. Das gilt es stets zu bedenken, wenn Jugend musiziert. Sonst kommen die Leiden, und es heißt nun: Jugend laboriert.