Essen "Jenufa" - zeitlos im Aalto-Theater

Essen · Essen holte Robert Carsens 15 Jahre alte Produktion aus Antwerpen.

Robert Carsen gehört zu den gefragtesten Regisseuren im internationalen Opernbetrieb. Soeben hat er in Zürich Tschaikowskis "Pique Dame" inszeniert, und zurzeit arbeitet er in Amsterdam an Verdis "Falstaff". Wenn mittlere Häuser sich einen Carsen leisten wollen, müssen sie sich mit Übernahmen begnügen. An der Rheinoper gibt es eine "Bohème" aus Antwerpen, der neue Essener Intendant Hein Mulders holt nun - ebenfalls aus Antwerpen - die mittlerweile 15 Jahre alte "Jenufa" ans Aalto-Theater. Robert Carsen ist auch deshalb so begehrt, weil seine Arbeiten sich zum Umtopfen eignen. Denn sie sind sorgfältig gearbeitete, durchdachte Klassiker, deren reduzierte Ästhetik keiner Mode unterliegt.

Das gilt auch für die "Jenufa"-Produktion aus Antwerpen: Carsen hat Janáceks Drama aus der mährischen Dorfgesellschaft in die 50er Jahre verlegt, Patrick Kinmonths Einheitsbühnenbild verwendet auf torfbedecktem Boden lediglich alte Türen als Kulissen, die sich mal zur Enge der ärmlichen Hütte verengen, mal zum öffentlichen Raum werden Carsen inszeniert das Chorkollektiv als bedrohlich sich aufbauenden Block, erzählt beiläufig aber auch Einzelgeschichten vom Gaffen und Wegsehen, von Bigotterie, Neid und Heuchelei, kurzum: Er skizziert mit wenigen Strichen den Horror einer traditionellen Gesellschaft. Die Tragödie des Kindsmordes an Jenufas unehelichem Sohn, zu dem die strenge Küsterin sich gezwungen sieht, erzählt Carsen ohne sich anbietende Aktualisierungen; stattdessen setzt er auf die Zeitlosigkeit des Konflikts zwischen einer verrohten Gesellschaft und prekären Einzelschicksalen.

Im ersten Akt wirkt diese mildernde Distanz noch arg zahnlos. Nach der Pause aber nimmt Carsens präzise Psycho-Mechanik der Personenführung Fahrt auf. Starke Bilder brennen sich ins Hirn, und auch Tomá Netopil am Pult der Essener Philharmoniker lässt Janáceks Eruptionen freien Lauf. Sandra Januaitë in der Titelpartie wirkt anfangs etwas matt, doch dann blüht ihr dunkel timbrierter Sopran zu großer Form auf, Katrin Kapplusch ist eine furiose, ungewöhnlich hell klingende Küsterin, die rivalisierenden Männer sind mit Jeffrey Dowd (Laca) und Alexey Sayapin (Stewa) ansprechend besetzt. Mehr und mehr kriecht Janáceks Drama unter die Haut, und wenn in der utopischen Schluss-Sequenz sich vom Bühnenhimmel Regen auf das zurückbleibende Paar Jenufa und Laca ergießt, ist das überwältigend.

Karten-Telefon: 02 01 81 22 200

(RP)
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