Jean Améry – fremd in dieser Welt

Vor 100 Jahren wurde der jüdische Publizist und Schriftsteller Jean Améry geboren. In seinem Buch "Hand an sich legen" bezeichnete Améry, der in den Konzentrationslagern der Nazis gefoltert wurde, den Freitod als ein "Privileg des Humanen". 1978 tötete er sich selbst.

Salzburg Dieses Leben ist nur von seinem Ende her zu denken: vom Selbstmord also. Es ist der 17. Oktober 1978. Jean Améry ist auf Lesereise, wird auf der Frankfurter Buchmesse erwartet, als er im Hotel "Österreichischer Hof" in Salzburg eine Überdosis Schlaftabletten nimmt. Das Geld fürs Zimmer liegt auf dem Tisch, daneben ein Zettel fürs Hotel, auf dem er sich für all die Unannehmlichkeiten entschuldigt, die er dem Haus mit seinem Ableben bereitet. Auch im Abschiedsbrief an seinen Verleger Michael Klett bittet er um Verzeihung: "I was a bad investment."

Ein fürchterliches Lebensende, und doch kam es nicht unerwartet. Denn genau diese Szenerie hatte der Schriftsteller schon einmal beschrieben – in seinem ungeheuerlichen Essay über den Freitod: "Hand an sich legen" war der Titel seines Buches von 1976. Das Werk hat Améry nie als eine Art Gebrauchsanweisung zur Selbsttötung verstanden; auch wollte er den Selbstmord nicht verherrlichen. Aber das war ihm dann doch wichtig, den Freitod als "ein Privileg des Humanen" zu begreifen.

Auf der Suche nach seinem Motiv könnte man es sich leicht machen und seinen Grabstein auf dem Wiener Zentralfriedhof dazu aussagen lassen. Weil darauf die 17 23 64 in den Stein gehauen wurde, seine Häftlingsnummer aus dem Konzentrationslager von Auschwitz. Die Höllen der Nazis hatte der heute vor 100 Jahren in Wien geborene Jude überlebt: Buchenwald, Bergen-Belsen, Auschwitz. Doch was heißt dieses Überleben schon angesichts dessen, was er dort erlebte. Erst die Nazis haben ihn dazu gezwungen, ein Jude zu sein, wird er später sagen. Und: "Jude zu sein, das hieß für mich von Anfang an, ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender." Heimatloser und auch fremder lässt sich eine Existenz kaum denken.

Dennoch hat es lange gedauert, bis der gefragte und geschätzte Publizist über sein Schicksal zu reden begann, eigentlich erst mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964. Dann aber gab er von sich mit Nachdruck Auskunft, schrie das Unrecht förmlich heraus, schilderte exakt das, was ihm angetan wurde und was zu lesen auch heute noch schmerzt. "Die Tortur" aus dem Essayband "Jenseits von Schuld und Sühne" (1966) schildert die Folter ganz und gar ungeschützt: Wie man seine Hände auf dem Rücken zusammenbindet und er dann an einem Strick hochgezogen wird. Ein paar Minuten schafft es die Muskelkraft noch, den Körper in Schräglage zu halten. Dann aber ist ein Krachen und Splittern in den Schultern zu hören; die Kugeln springen unter erbarmungslosen Schmerzen aus den Pfannen. Das alles beschreibt Améry und nennt es schließlich einen "etymologischen Anschauungsunterricht". Denn Tortur stammt vom lateinischen Wort torquere, verrenken.

"Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs", so Améry. Mit dem ersten Schlag breche dieses Weltvertrauen zusammen. Auch darum ist diese Tortur für ihn nie beendet worden: "Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich."

Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass er mit dieser Last immer weniger umgehen und leben konnte. Dass der Selbstmord die Flucht aus einer Welt war, die ihn einst zum Tode verurteilte und ihn dann zum Leben verdammte. Doch Améry, so sagt es die Herausgeberin seiner Gesamtausgabe, Irene Heidelberger-Leonard, sei nicht an Auschwitz gestorben, sondern an der Nachkriegszeit. In der Philosophie Jean Paul Sartres fand Améry zwar einen geistigen Vater, doch beängstigte ihn in Deutschland ein zunehmender Antisemitismus, der sich nach seiner Beobachtung hinter dem Wort des Antizionismus zu verstecken suchte.

Verheerender noch aber war die schroffe Ablehnung seines Roman-Essays "Lefeu oder Der Abbruch" von 1974. Gerade die Literatur war ihm wichtiger als alle seine Essays. Sie waren für ihn eine Bewährungsprobe für das eigene Leben. Diese aber missglückte gründlich. Sein Selbstmord wurde so auch ein Denkzettel für die Gesellschaft, die ihn auch als Schriftsteller ablehnte.

Zu seinem 100. Geburtstag würde sich Jean Améry vielleicht jenen Satz wünschen, mit dem er "Hand an sich legen" – seinen Diskurs über den Freitod – enden ließ: "So wollen wir gedämpft und in ordentlicher Haltung, gesenkten Kopfes den beklagen, der uns in Freiheit verließ."

(RP)
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