Jazz für alle Himmelsrichtungen

Zwischen Schumann, Jarrett und Edgar Allan Poe: Der Pianist Michael Wollny ist eine der großen Nachwuchshoffnungen des Jazz.

"Ein Star... ich glaube, das ist ein heimischer Vogel." Michael Wollny lacht, und in seinem auch mit 38 Jahren noch immer jungenhaften Gesicht spiegelt sich das Vergnügen über die gelungene Replik. Mag der Pianist es mit seinen Alben auch in die Pop-Charts schaffen und auf seiner aktuellen Tour mit dem Akkordeonisten Vincent Peirani für Jazz-Verhältnisse staunenswert große Hallen wie die Kölner Philharmonie, die Alte Oper in Frankfurt oder die Hamburger Laeiszhalle füllen, der Mann mit dem blassen Teint gibt sich bescheiden. "Zu sagen, ich fühlte mich jetzt als Star, das würde mir nicht über die Lippen kommen."

Nun ist Bescheidenheit bekanntlich eine Zier, doch weiter, weiß der Volksmund, kommt man ohne ihr. Eine Lebensweisheit, die der Tastenstreichler indes sogleich klug zu kontern weiß: "Gerade in einem Metier, das so unmittelbar über die Improvisation funktioniert wie die Jazzmusik, stören Äußerlichkeiten eigentlich eher und können sogar destruktive Kräfte entwickeln". Natürlich nimmt auch Wollny den Hype um seine Person wahr und räumt ein, dass es "teilweise schon surreal große Räume für den Jazz sind, die wir im Trio spielen". Und trotzdem: "In dem Moment, wo der erste Ton erklingt, ist es nicht viel anders als vor 15 Jahren, als wir noch in den Clubs spielten - am Ende geht es immer um die Musik."

Um seine Musik. Denn der Schlacks liebt es zu spielen: mit sich und seiner Hörerschaft, mit Zeit und Raum - und oft mit seinen beiden Trio-Kollegen Eric Schaefer und Tim Lefebvre. Sein Leben eine Klangbibliothek, der Pianist nimmt sich hier ein Stück aus dem 14. Jahrhundert, dort eins von Wolfgang Rihm und lässt dann die Musik erst einmal passieren. Lässt sich inspirieren und greift Stimmungen auf: Seien es nun bekannte Themen aus Volksliedern oder von Pink, Motive von Hindemith oder Berg - und zerpflückt sie. "Für mich war Jazz immer vor allem eine Haltung und ein Interesse an dem Moment, miteinander improvisieren zu können."

Was im Konzert-Alltag bedeutet: Hier ein paar Jazzakkorde, dort ein paar Freestyle-Elemente, doch über weite Strecken auch eine schon fast vertraut-wohlige Zugänglichkeit. Ein Spiel in Klangräumen, das immer wieder zu wundervoll reinen wie schlichten Melodien findet und in das Schlagzeuger Schaefer und Bassist Lefebvre doch genügend Intensität einbringen, um melodienseliges Dahinträumen zu verhindern. Und so wird der Zuhörer mitgezogen in diesen Sog aus Clustern und Klängen, aus Schwingungen und Strömungen - ohne den Anspruch, nun gleich den Jazz an sich neu erfinden zu müssen, dafür aber stets mit einem ungeheuren Atem.

Berührungsängste mit anderen Genres sind Wollny dabei bis heute fremd - ob diese, nicht zuletzt gedankliche Freiheit auch aus seinen ersten Erfahrungen mit dem Instrument rührt? Seine acht Jahre ältere Schwester, selbst Pianistin und studierte Musikerin, hatte daheim nämlich stets auf den weißen und schwarzen Tasten improvisiert und damit den kleinen Bruder so beeindruckt, dass er sich schon als Dreijähriger von ihr Tonleitern auf dem Klavier zeigen ließ, denen bald kleine Hausmusiken folgten. "Und für meine allererste Lehrerin waren Improvisation und freies Spiel immer ähnlich wichtige Bestandteile des Unterrichts wie das klassische Repertoire", erinnert sich der gebürtige Schweinfurter. Natürlich habe auch er Fingerübungen und Anschlagtechnik trainiert, doch "wohler habe ich mich gefühlt, wenn ich einen improvisatorischen Freiraum hatte". Sich Fingersätze zu merken, war ihm ein Gräuel - "und wenn ich auf einem Vorspielabend bei einem Bachstück den Notentext vergessen hatte, habe ich einfach vier Takte eingefügt". Insofern sei ihm schon als Jugendlicher klar gewesen, dass eine Klassik-Karriere nie in Frage gekommen wäre.

Umso mehr, nachdem ihm sein Onkel die Aufnahme von Keith Jarretts "Köln Concert" geschenkt hatte: "Das fand ich so super, dass ich damals im CD-Laden nach Keith Jarrett suchte und sein Album 'Personal Mountains' erstand." Eine Initialzündung, der auch die Gründung seiner ersten Band "Dreiklang" gemeinsam mit einem Saxofonisten und einem Schlagzeuger entsprang und sodann die ersten Auftritte in einem Jazzclub in Schweinfurt. Was folgte, liest sich im Nachhinein wie eine wohl geplante Karriere: Jungstudent bei Chris Beier an der Musikhochschule in Würzburg, Bundesjugendorchester bei Peter Herbolzheimer, Projekte mit Jazz-Größen wie Saxofonist Heinz Sauer oder Pianist Joachim Kühn. Preis folgt auf Auszeichnung, Echo auf Award: Seit seinem Debütalbum 2001 hat es kaum ein Jahr gegeben, in dem Wollny nicht von einem Jazz-Magazin oder auf einer Echo-Gala geehrt worden wäre.

Seine Inspiration indes bezieht der Pianist bis heute aus der Klaviermusik von Schumann, Schubert und deren Nachfolgern. Sei es, dass der für einen Jazzer und Nachtarbeiter erstaunlich gesund aussehende Musiker am Klavier "Das Model" von Kraftwerk interpretiert, im Kino live zum Stummfilm "Nosferatu" improvisiert oder mit dem Norwegian Wind Ensemble Debussys "Prélude à l'après d'un faune" neu entdeckt - stets geht es ihm dabei auch darum, Grenzen einzureißen. "Eine Komfortzone zu überschreiten, finde ich spannend, weil da kein Platz mehr ist für ästhetisch-reflexive Gedanken, sondern es nur noch um den Moment geht."

Der Aufbruch ins Ungewisse, das Spiel am Abgrund, die Suche nach dem Unbekannten: Faszinationen, die auch einer anderen Leidenschaft Wollnys durchaus eigen sind - der schwarzen Romantik in Literatur und Film. Als Kind liebte der kleine Michael die Gruselgeschichte vom kleinen Vampir und verkleidete sich zum Fasching als Blutsauger - heute schmückt eine stattliche DVD-Sammlung von Horrorfilmen die Wohnung in Leipzig, wo der Künstler inzwischen mit seiner Frau und dem dreijährigen Sohn lebt und als Nachfolger des verehrten Richie Beirach Jazz-Studenten unterrichtet. Da ist es beruhigend zu wissen, dass Wollny es auf der Bühne bei düster-verzaubernden Klang-Überraschungen belässt.

(RP)
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