Interview mit Manfred Lütz „Die Krise zwingt, Sinnfragen zu stellen“

Düsseldorf · Christen seien gerade jetzt in der Krise gefordert, konkrete Nächstenliebe zu üben, sagt der Psychiater und Theologe Manfred Lütz im Interview. Besonders jetzt könne der Glaube an Gott helfen.

 Innehalten in der Krise: Eine Frau in Oberhausen hat zum Gebet eine Kerze ans Fenster gestellt. Ein Pfarrer hatte zu dieser Geste aufgerufen (Symbolbild).

Innehalten in der Krise: Eine Frau in Oberhausen hat zum Gebet eine Kerze ans Fenster gestellt. Ein Pfarrer hatte zu dieser Geste aufgerufen (Symbolbild).

Foto: dpa/Fabian Strauch

Manfred Lütz (66) hat zahlreiche Bücher geschrieben etwa über das Talent zum Glücklichsein, Lebenslust und Gott; und er hat eine Psycho-Analyse der katholischen Kirche vorgelegt.

Werden wir uns in den kommenden Wochen einrichten in ein Leben mit Corona?

Lütz Uns bleibt ja gar nichts anderes übrig, aber wir sind dazu auch in der Lage. Der Mensch kann selbst schwerste Traumata erstaunlich gut überstehen. Natürlich werden verletzlichere Menschen da auch gewisse Störungen erleiden. Aber sogar der schreckliche Zweite Weltkrieg hat keine Gesellschaft von gestörten Menschen hinterlassen. Der Mensch kann Enormes verkraften, allerdings heißt das natürlich nicht, dass es leicht wird.

Im Moment erleben wir im Zeitraffer, wie Gewissheiten wegbrechen, Alltag verlorengeht. Wie sollte man damit umgehen?

Lütz Oberflächliche Gewissheiten verschwinden, aber dadurch schaut man vielleicht auch mal ein bisschen tiefer. Tatsächlich ist es ja so, dass alle Menschen sterben müssen. Alle. Wir denken im Alltag nur nicht dauernd daran und das muss man auch nicht. Aber im Moment kann man dieser Realität weniger gut ausweichen. Und das Besondere ist, dass wir das alle gleichzeitig kollektiv erleben.

Manchen erscheinen die Maßnahmen der Regierung zu lasch, anderen als hysterisch. Auch Experten sind sich nicht einig. Das schwächt das Vertrauen vieler Menschen in die aktuellen politischen Entscheidungen. Wie wäre dem zu entgehen?

Lütz Es ist vollkommen normal, dass Experten sich bei einer so völlig neuen Gefahr nicht ganz einig sind. Natürlich hätte man lieber klare Fakten, auf deren Grundlage Politiker die weitreichenden Entscheidungen treffen, die jetzt getroffen werden müssen. Aber so ist es nun einmal nicht. Mein Eindruck ist, dass unsere Politiker zur Zeit ihren Job außerordentlich gut machen. Ministerpräsident Laschet hat eindrucksvoll und überzeugend die schwierigen Entscheidungssituationen von Politikern deutlich gemacht. Wer den Eindruck erweckt, es wäre doch einfach gewesen, zum Beispiel die Schulen eher zu schließen, verkennt, dass es sich auch dabei um schwierige Abwägungen handelt. Selbst die Experten befürchteten die negativen Nebeneffekte einer solchen Maßnahme: Wohin mit den Kindern arbeitender Eltern? Wie vermeiden, dass die ausgerechnet zu den gefährdeten Großeltern gehen? Und so weiter. All diese Entscheidungen sind schwierige Abwägungen. Die noch schwierigere Entscheidung wird übrigens, wann man die Schulen wieder aufmachen soll.

Warum?

Lütz Epidemiologen sagen, die Entwicklung könne zwei Jahre dauern. So lange kann man die Kinder nicht zuhause lassen. Und auch die Wirtschaft würde total einbrechen, was neue Probleme nach sich zieht. Wenn man also zum Beispiel je nach Lage nach Ostern wieder die Schulen öffnet, dann mag das vielleicht sogar gegen den Rat mancher Epidemiologen geschehen. Für solche schwerwiegenden, aber möglicherweise notwendigen Entscheidungen müssen wir unseren Politikern den Rücken stärken.

Wie kann der Glaube in diesen Tagen helfen?

Lütz Natürlich kann der Glaube helfen. Wenn man denkt, mit dem Tod ist alles aus, es gibt keinen Gott und dem Weltall ist es egal, wenn hier Tausende Menschen an einem Virus verrecken, dann ist die Lage im Moment tatsächlich trostlos. Aber wenn man an Gott glaubt, wenn man glaubt, dass es über den Tod hinaus ein ewiges Leben gibt und einen Sinn, trotz all des Leidens in der Welt, dann erlebt man die Krise anders. Natürlich kommt man jetzt mit einem niedlichen Schönwetter-Gott nicht weiter. Aber als Christ glaube ich an einen gekreuzigten, an einen mitleidenden Gott, der gerade in der Krise bei uns ist. Das Christentum fußt auf der Nächstenliebe und das muss man gerade jetzt merken.

In den Gemeinden ruht gerade die caritative Arbeit oft auf den Schultern alter Menschen, die sich jetzt kaum stoppen lassen, obwohl sie sich selbst gefährden.

Lütz Deswegen finde ich die Initiative von Kardinal Woelki toll, der die jungen Menschen, die Firmlinge, Ministranten und so weiter aufgefordert hat, zum Beispiel bei der Tafel einzuspringen und überhaupt alle Christen daran erinnert, dass man zwar die Gottesdienste eine gewisse Zeit einstellen kann, niemals aber die Nächstenliebe. Und auch Atheisten müssen sich klar machen, dass es in einer Epidemie eigentlich keine bloß individuellen Entscheidungen mehr gibt. Der 80-Jährige, der auf seine Gesundheit aufpasst, passt auch auf die Gesundheit anderer 80-Jähriger auf.

Im Bistum Essen entzünden Menschen nun abendlich Kerzen als Zeichen des gemeinsamen Gebets. Wird der Mensch immer nur in der Krise religiös?

Lütz Das glaube ich nicht. Im Krieg sind auch Menschen vom Glauben abgefallen. Aber Krisen rütteln wach, sie zwingen uns, über den Sinn unseres Lebens nachzudenken und unsere Zeit nicht einfach nur dahinplätschern zu lassen. Sonst steht am Ende auf dem Grabstein: Er lebte still und unscheinbar, er starb, weil es so üblich war.

Dorothee Krings führte das Gespräch.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort