Interview Die Wissenschaft wird mit dem Brexit leiden

Die in Oxford lehrende Münsterländerin fürchtet, dass mit dem Brexit unter anderem der Wissenstransfer problematisch wird.

 Professorin  Ulrike Tillmann

Professorin Ulrike Tillmann

Foto: Endermann, Andreas (end)

Mathematikprofessorin Ulrike Tillmann lebt seit 30 Jahren in Großbritannien. Sie lehrt und forscht in Oxford und besitzt neben der deutschen Staatsangehörigkeit auch die des Vereinigten Königreichs. Wenn die gebürtige Münsterländerin deutsch spricht und die Knacklaute phonetisch very british besänftigt, errät man, wo ihr Zuhause ist – im United Kingdom. Wegen des Brexit allerdings hadert sie derzeit mit ihrer Wahlheimat.

Haben Sie in den vergangenen Wochen mal daran gedacht, nach Deutschland zurückzukehren?

Tillmann Ich habe mich immer mal wieder für Stellen in Deutschland interessiert, weil ich Deutsche bin. Da jedoch meine Familie in UK lebt, mein Mann ist Engländer, kam es letztlich nicht dazu. Direkt durch den Brexit haben sich keine Auswanderungsgedanken ergeben. Vielleicht sollte ich besser sagen: noch nicht. Denn wenn es zum harten Brexit kommt und die Wirtschaft kippt, muss man sich überlegen, was für die Familie das Beste ist. Gerade im Moment, wo das politische Gefüge recht instabil ist. Labour wird von einer stark links orientierten Gruppe geführt, die Konservativen werden von einer stark rechts gelegenen Gruppe beeinflusst. Wenn es keine Balance mehr gibt und sich kein Kompromiss einstellt, werden sich gesellschaftliche Folgen ergeben, die sehr unangenehm sein können.

Sie sind gegen den Brexit.

Tillmann Ja, allerdings! Ich habe auch vor einigen Wochen die Petition unterschrieben, in der sich sechs Millionen Menschen für einen Verbleib Großbritanniens in der EU aussprechen.

Welche sind Ihre größten Sorgen bezogen auf die Wissenschaft?

Tillmann Es gibt drei maßgebliche Punkte: Es geht erstens um die internationale Zusammenarbeit, die in der Wissenschaft unerlässlich ist. Jeder sechste Akademiker in Großbritannien kommt vom EU-Festland oder aus Irland, bei den Doktoranden ist es sogar jeder dritte. Das sehen Sie an meiner Forschungsgruppe: Zu ihr gehören sechs Doktoranden, darunter zwei Deutsche, ein Tscheche und ein Franzose. Ein zweiter Punkt sind die  europäischen Geldkanäle. UK bekommt pro Jahr mehr als eine Milliarde Euro von der EU. Das heißt auch, dass wir Teil eines  internationalen Wettbewerbs sind. Innerhalb dieses Netzwerks müssen und wollen wir uns beweisen. Der Austausch und die Zusammenarbeit mit unseren Kollegen etwa in den Niederlanden, in Deutschland und Frankreich darf nicht gekappt werden. Der dritte Punkt betrifft die Übereinstimmung  von Regelungen. Um zum Beispiel seltene Krankheiten oder Pharmazeutika erforschen zu können, braucht man einen internationalen Patientenpool. Da müssen die Regelungen auf allen Seiten dieselben sein.

Das klingt, als drohe den Briten ein hausgemachter Notstand.

Tillmann Ich denke, dass die europäische Wissenschaft insgesamt leiden würde, wenn die Briten ausgeschlossen würden. Niemand wird bestreiten, dass die britische Wissenschaft Weltklasse ist. Allein die Tatsache, dass UK überdurchschnittlich viele Gelder von der EU bekommt, zeigt, dass das Land sehr erfolgreich ist. Zudem kommen 15 Prozent der top gerateten Publikationen aus UK, und wiederum 50 Prozent davon entstehen durch internationale Kooperation. Wir hängen zusammen! Eine brutale Trennung wäre schlecht für alle.

Sie hoffen das Beste, obgleich es von der Regierung bislang keine konkreten Zusagen gibt. Warum wurden die zwei Jahre seit dem Referendum nicht besser genutzt?

Tillmann Sie können mir glauben – wir Wissenschaftler haben uns viele Gedanken gemacht. Das weiß ich auch deshalb, weil ich im vergangenen Jahr Vizepräsidentin der Royal Society war und in dieser Funktion an vielen Gesprächen teilgenommen habe. Jedoch braucht es zunächst ein Grundgerüst, auf das wir bauen können. Es ist ja momentan noch alles offen: harter Brexit, soft Brexit, ein neues Referendum oder gar kein Brexit. Wir würden am liebsten so weitermachen wie bisher.

Ist der Rückgang der Studierenden aus Kontinentaleuropa Ausdruck dieser Verunsicherung?

Tillmann Vermutlich. Denn es gibt Befürchtungen, dass sie künftig höhere Studiengelder zahlen müssen. Bislang ist die Summe, genauso wie bei den einheimischen Studenten, mit 9000 Pfund gedeckelt. Gilt die bestehende EU-Regelung nicht mehr, wären es möglicherweise an die 20.000 Pfund – wie sie andere internationale Studenten aufbringen müssen. Das ist natürlich sehr viel. Davon werden aber wohl nicht diejenigen betroffen sein, die bereits an den Hochschulen studieren oder einen Platz ab Oktober sicher haben. Für diese jungen Leute bleibt vermutlich bis zu ihrem Abschluss alles beim Alten. Es gibt also allgemeine Ungewissheiten, die sich auch in einem Rückgang der Studierenden widerspiegeln können.

Und wie sieht es bei den Wissenschaftlern aus?

Tillmann Es ist zu hören, dass es eine zunehmende Zurückhaltung gibt, jedoch habe ich keine harten Zahlen dazu. Ich glaube allerdings auch, dass der Brexit gelegentlich bei der Ablehnung einer Stelle vorgeschoben wird.

Der Ruf Großbritanniens hat  auch als Wissenschaftsstandort gelitten.

Tillmann Und ein harter Brexit würde unser Standing noch stärker angreifen. England hat stets viele Wissenschaftler angezogen. Die Sprache ist ein Grund, aber auch die Tatsache, dass Großbritannien für internationale Wissenschaftler ein Tor zu Europa ist. Dorthin zu gehen, war bisher gleichbedeutend damit, als Wissenschaftler in einem europäischen System zu leben. Dass sich das jetzt gerade ändert, ist traurig. Deswegen möchte ich deutlich sagen, dass gerade wir Wissenschaftler sehr für Internationalität eintreten und die aktuelle Entwicklung nicht gutheißen. Ich wünschte, Wissenschaftler besäßen einen Ausweis, der ihnen das grenzüberschreitende Reisen und Arbeiten erlaubt wie den Diplomaten.

Ihre Kollegin Victoria Bateman, die in Cambridge lehrt, fordert Wissenschaftler auf, sich einzumischen. Sie protestiert in Vorträgen und Meetings nackt gegen den Brexit. Was halten Sie davon?

Tillmann Das ist eine große Frage. Ich glaube schon, dass wir Wissenschaftler uns überlegen müssen, wie wir mit der Gesellschaft zusammenkommen und welche Rolle wir angesichts der aktuellen Entwicklung übernehmen. Allerdings ist unsere zentrale Aufgabe, verlässlich Wissen zu erarbeiten und  weiterzugeben. Ohne dieses Wissen, ohne Informationen, genauso wie ohne Recherchen und ohne Reporter kann die Demokratie nicht auskommen. Andererseits müssen diese Informationen an sich sinnvoll präsentiert und sinnvoll interpretiert werden.

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