In Cannes siegt die Liebe

Mit seinem existenziellen Kammerspiel über die Liebe zwischen zwei alten Menschen hat der Österreicher Michael Haneke verdient die Goldene Palme gewonnen. Sein zweiter Sieg nach 2009. Auch die restlichen Preise in einem eher mittelmäßigen Jahr gingen an europäische Künstler.

Cannes Er hat mit kaltem Blick auf das Bürgertum geschaut, unerbittlich vorgeführt, worauf dessen Moralvorstellungen und Erziehungsprinzipien fußen. Diesmal jedoch hat der österreichische Regisseur Michael Haneke Gefühle zugelassen und einen Film über die Liebe gedreht. Freilich über die Liebe in Bedrängnis – im Alter nämlich, wenn Krankheiten existenzielle Abhängigkeiten schaffen, wenn sich bewähren muss, was an Zuneigung zwischen zwei Menschen in Jahrzehnten gewachsen ist. Ein in seiner stillen Genauigkeit ergreifendes Kammerspiel ist Haneke mit "Amour" gelungen. Dafür hat er in Cannes nun die Goldene Palme gewonnen – nach dem Sieg 2009 für "Das weiße Band" war er zum zweiten Mal der herausragende Favorit des Festivals und wurde zu Recht mit der wichtigsten Auszeichnung belohnt.

In "Amour" zeigt Haneke in seinen unbestechlich klaren, überlegten Bildern, wie ein alter Musikprofessor seine Frau pflegt. Die ist nach einer missglückten Operation erst gehbehindert, dann lähmt ein Schlaganfall auch ihre Sprache, sie wird ein Pflegefall. Haneke lässt seine Zuschauer erkennen, welchen Verlust seine Hauptfiguren erleiden, indem er in kurzen Momenten das frühere Leben des Paars in Paris zeigt: Die beiden hochmusikalischen Menschen umgaben sich mit Noten, Büchern, Schallplatten, hatten einen regen intellektuellen Freundeskreis. Doch die Bildung kann sie nicht schützen vor dem, was das Alter ihnen zumutet.

Zum ersten Mal zeigt Haneke Mitleid mit dem Bürgertum. Er ist nicht mehr der Insektenforscher, der seine Objekte betrachtet, sondern erzählt, wenn auch ohne jede Sentimentalität, wie weit Liebe tragen kann. Und wie unerbittlich die Vergänglichkeit ist.

"Amour", der erst im September in die deutschen Kinos kommt, ist raffiniert erzählt. So spiegelt etwa eine alte Geschichte aus dem Jugendcamp, die Georges erzählt, mit einem Postkarten-Geheimcode für die Mutter die Schwierigkeiten Annes, ein Signal nach außen zu geben, als sie nicht mehr sprechen kann.

Natürlich hat auch dieser Film eine gesellschaftspolitische Dimension. Hanekes Paar kann sich zwar Pflegerinnen leisten, ruppig sind die trotzdem. Die distanzierte und egozentrische Tochter Eva (Isabelle Huppert) kommt nur aus London vorbei, um alles besser zu wissen. Als Anne zu verstehen gibt, dass sie das quälende Füttern nicht mehr erträgt, fasst Georges einen radikalen Entschluss.

Emmanuelle Riva (85) und Jean-Louis Trintignant (81) spielen das Professoren-Paar so überragend, dass sie die Hauptdarstellerpreise verdient hätten. Doch das widerspricht den Regeln in Cannes. So zeichnete die Jury unter dem Vorsitz des italienischen Regisseurs Nanni Moretti die Rumäninnen Cosmina Stratan und Cristina Flutur als Beste Schauspielerinnen aus. Sie spielen in dem Exorzismus-Drama "Beyond the Hills" von Cristian Mungiu mit, das auch den Preis für das beste Drehbuch erhielt. Bester männlicher Darsteller wurde der Däne Mads Mikkelsen für seine Rolle in Thomas Vinterbergs "The Hunt". Er verkörpert darin einen Mann, der zu Unrecht als Kinderschänder beschuldigt wird.

Der Große Preis der Jury ging an die Gesellschaftssatire "Reality" des Italieners Matteo Garrone. Der britische Regisseur Ken Loach wurde für sein tragikomisches Drama "The Angels' Share" mit dem Preis der Jury geehrt. Damit ging kein einziger Preis in Richtung Hollywood. Stars wie Brad Pitt, Robert Pattinson, Kristen Stewart und Nicole Kidman brachten zwar Glanz an die Côte d'Azur – künstlerisch überzeugend in einem mittelmäßigen Jahr waren aber die Europäer.

(RP)
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