Interview Barbara Stollberg-Rilinger „Frauen, dachte man, sind den Männern in jeder Hinsicht – Geist, Körper, Seele – unterlegen“

Düsseldorf · Die Historikerin erforscht seit fast 40 Jahren die kulturpolitischen Strukturen der frühen Neuzeit, dem Zeitraum zwischen Reformation und französischer Revolution.

Barbara Stollberg-Rilinger (63) bekleidet seit 1997 den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster. Seit September 2018 ist sie Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Am Mittwoch verleiht ihr die Heinrich-Heine-Universität den mit 20.000 Euro dotierten Meyer-Struckmann-Preis.

Frau Stollberg-Rilinger, ihr Forschungsgebiet ist die frühe Neuzeit. Womit beschäftigen Sie sich genau?

Stollberg-Rilinger Ich beschäftige mich mit der europäischen Geschichte dieser Zeit, insbesondere mit der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, ein heute kaum noch bekanntes politisches Gebilde. Einen weiteren Schwerpunkt habe ich auf der Kulturgeschichte des Politischen. Solche Dinge wie politische Rituale und Verfahren, also die Strukturen der politischen Kultur, könnte man sagen. Es geht mir dabei vor allem um die symbolische Dimension des Politischen, also zum Beispiel Einsetzungsrituale, Sitz- und Stimmordnungen.

 Barbara Stollberg-Rilinger

Barbara Stollberg-Rilinger

Foto: HHU

Was war denn zum Beispiel ein bedeutendes Symbol?

Stollberg-Rilinger Die Krönung Maria Theresias zum König von Ungarn. Das ist hochsignifikant, weil sie als Frau die Herrschaft geerbt hatte, damit aber ein Legitimationsproblem hatte. Weil „Weiberherrschaft“ damals für etwas Verwerfliches gehalten wurde. Frauen, dachte man, sind den Männern in jeder Hinsicht – Geist, Körper, Seele – unterlegen. Deswegen hat man Maria Theresia 1740 zum König gekrönt und nicht zur Königin. Und man hat ausdrücklich gesagt, dass man von ihrem weiblichen Geschlecht absieht. Also hat man, und das war eine juristische Fiktion, die Erbin dieser habsburgischen Länder – unter anderem Ungarn und Böhmen – wie einen Mann behandelt. Sie wiederum tat in diesem Ritual alles, was sonst nur Männer taten, wenn sie gekrönt wurden: Sie ritt auf einem Pferd und führte das Schwert symbolisch zur Verteidigung der Christenheit. An diesem Punkt kann man sehen, wie wichtig so ein Ritual genommen wurde, um in einer Krisensituation die Legitimität der neuen Herrscherin zu stabilisieren.

Welche Wirkung können solche Rituale haben?

Stollberg-Rilinger Einerseits gibt es Rituale der Ordnung, der Stabilisierung, also zum Beispiel eine Krönung. Andererseits gibt es aber auch Rituale und Symbole des Widerstandes und des Umsturzes. Und man kann man sehr deutlich zeigen, wie so etwas über die Jahrhunderte ähnlich funktioniert. Die Menschen zerstören zum Beispiel ein Symbol der Unterdrückung, der alten Ordnung, um die Ordnung selbst zu zerstören. Das ist etwa bei der Bastille in Frankreich 1789 so gewesen. Nach der berühmten Erstürmung hat man das ganze große Bauwerk in kleine Teile zerhackt. Ein kommerzieller Unternehmer hat sie verkauft und damit ein Vermögen gemacht. Ganz ähnlich ist es beim Mauerfall auch gewesen. Da hat man auch die Mauer als Symbol der Unterdrückung, als Symbol des alten Regimes nicht nur vom Bagger niederreißen lassen, sondern die Einzelteile als Symbole der Zerstörung des Unterdrückungsregimes unter die Leute gebracht.

Stimmt es, dass sich Maria Theresia an Traditionen festklammerte?

Stollberg-Rilinger Festklammern ist das falsche Wort. Sie hat durchaus wichtige und grundlegende Reformen initiiert. Aber sie war eine sehr ambivalente Gestalt. Das Interessante an ihr und auch an ihrer ganzen Epoche, also dem 18. Jahrhundert, ist die spezifische Doppelgesichtigkeit. Das Jahrhundert erscheint einerseits noch sehr altertümlich, sehr barock, und andererseits in vieler Hinsicht schon sehr modern, sehr aufklärerisch. Und diese Widersprüchlichkeit kennzeichnet auch Maria Theresia selbst.

Ist das nicht ein Problem, das jede Epoche hat?

Stollberg-Rilinger Es gibt natürlich immer sowohl Veränderung als auch Kontinuität. Aber die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist insofern ein besonderer Fall, als das eine Zeit beschleunigten Wandels war. Da wurden auf einmal uralte Traditionen angegriffen, Autoritäten in Frage gestellt und ganz unerhörte Reformen auf die Tagesordnung gesetzt. Also nicht nur ein bisschen Flickwerk – die Strukturen sollten nach rationalen Maßstäben ganz neu konstruiert werden. Typisch dafür ist die Metapher des Staates als Maschine. Man stellte sich vor, den Staat wie eine Maschine von Grund auf neu bauen zu können. Das waren neue Töne. Die Bereitschaft zur Veränderung, auch der Gestaltungsoptimismus, das war grundsätzlicher als in allen Epochen zuvor. Zugleich wuchsen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch die gesellschaftlichen Spannungen und führten schließlich zur Revolution.

Woher kam der Funke zur Veränderung?

Stollberg-Rilinger Da kamen viele Faktoren zusammen: Bevölkerungswachstum, Hungersnöte, aber auch eine neue Bedeutung der Medien, eine neue Einstellung. In Deutschland waren es vor allem Staatsbeamte, die an den Reformuniversitäten neue Ideen vermittelt bekommen hatten und nun gegen die Privilegien der Ständegesellschaft vorgingen, gegen all die Traditionsbestände, die über die Jahrhunderte gewachsen waren und sich rational nicht mehr rechtfertigen ließen.

Können wir daraus Parallelen für unsere Zeit ziehen?

Stollberg-Rilinger Das ist immer heikel. Aber man kann natürlich Analogien beobachten. Wenn man auf Maria Theresia schaut, sieht man beispielsweise, dass eine Reform nie so ausgeht, wie man es auf dem Reißbrett geplant hat, sondern vielmehr immer neue Reformen provoziert. Rationale Planung stößt bei der Realisierung immer an Grenzen. Institutionelle Beharrungskräfte und unvorhergesehene Umstände zwingen dann dazu, die Reform ihrerseits wieder zu reformieren. Am Ende kommt meist mehr Bürokratie dabei heraus, mehr Stellen für Verwaltung, höherer Finanzbedarf, um die Folgen der Reform zu bewältigen. Und diesen Teufelskreis der Reform der Reform der Reform sozusagen – das ist etwas, was uns auch heute nicht unbekannt ist.

Sie lehren seit 20 Jahren Geschichte. Würden Sie sagen, dass wir mehr Geschichtskunde brauchen?

Stollberg-Rilinger Die Geschichte hat offensichtlich gerade eine sehr aktuelle Funktion. Das, was die deutsche Geschichte uns lehrt, war selten so wichtig wie gerade heute wieder. Wir erleben ja derzeit eine bedrohliche Entwicklung – populistische, fremdenfeindliche, antisemitische und nationalistische Tendenzen überall auf der Welt. Natürlich ist es Aufgabe der Geschichtswissenschaft, gerade in Deutschland, in Erinnerung zu halten, wohin es führt, wenn man solchen Tendenzen nachgibt; das kann man gar nicht oft genug sagen. Im Moment ist das wieder wichtiger geworden, als ich mir das in den letzten Jahrzehnten hätte vorstellen können.

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