Wien Im Dreiviertel-Takt ins neue Jahr

Wien · Die Wiener Philharmoniker werden morgen wieder aus dem Musikvereinssaal für die ganze weite Welt musizieren – mit vielen Walzern.

Alljährlich werden die Intervalle kürzer – zwischen dem legendären Neujahrskonzert in Wien und dessen Erscheinen auf CD. Früher kam die Platte ja erst um Fronleichnam heraus, und dann ging jeder in Gedanken schon in die Sommerferien oder stand am Gartengrill – und hatte jedenfalls den Jahreswechsel und dessen berühmteste Lautwerdung bereits vergessen. Neuerdings erscheint die Platte wenige Wochen nach dem 1.1., und es wird niemanden wundern, wenn sie demnächst bereits am Tag danach in die Läden und in den Internet-Versand kommt – abends und des Nachts produziert in zahllosen Presswerken.

Warum dieses Neujahrskonzert in aller Welt so unvergilblich goldenen Glanz genießt, ist leicht zu beantworten. Es veredelt und verlängert die eigene Feststimmung des Tages ins Historische; es macht uns Hörer zu einem Teil der fidelen, amüsierwilligen Geschichte, die bei Johann Strauß Vater begann und von den Wiener Philharmonikern als dem berufenen Orchester Jahr für Jahr reanimiert, dekantiert und zum Moussieren gebracht wird. Natürlich hört man in diesem Stündchen auch den Radetzky-Marsch und Polkas, Galopps und Ländler, doch der Walzer ist das, was uns am stärksten und innigsten an die Nacht zuvor erinnert: Alles dreht sich, alles schwingt, alles schwankt, nur der Rhythmus bleibt stabil.

Der Walzer unterliegt keiner Führungskrise. Er hat etwas Altmodisches, unter Zweien fragt keiner offen oder insgeheim: Führe ich? Beim Walzer führt der Mann, automatisch tut er das, er kann gar nicht anders, denn er ist für den Schwung zuständig, mit dem es auf die Eins geht, den betonten ersten Schlag im Dreivierteltakt. Guckt man sich Bilder von Tanzturnieren an, sieht man, fachsprachlich gesagt, dominante Harmonie im Intersexuellen. Der Walzer kennt keine Efrauzipation. Man tanzt ihn unter Anerkennung des Rituals, das ihn definiert, oder man lässt es bleiben.

Ohnedies ist der Walzer der am weitesten fortgeschrittene und exekutierte Tanz der Kulturgeschichte. Bei Wagner gibt es natürlich keinen Walzer, aber schon Bach kannte immerhin das Menuett, und nicht erst Chopin machte den Walzer salonfähig, Schubert hatte immerhin den Ländler, eine weitere seiner Vorstufen, und in Richard Strauss' "Rosenkavalier" war er immerhin schon in der Oper angekommen. Aus dem Ballett hingegen ist er nicht wegzudenken, stellen wir uns nur den "Nussknacker" ohne den Blumenwalzer vor. Auch Johann Strauß hat dem Walzer zahllose Kostbarkeiten gestiftet, wenngleich man sagen muss, dass die Familie Strauss auch der Polka gewichtigen Raum zubilligte.

Was macht den Walzer so wunderbar, so festlich? Es ist seine legere Strenge. Der Walzer kennt ja Nachgiebigkeit, ein sozusagen einkomponiertes Rubato, eine zarte Verzögerungshaltung, andererseits hat er etwas zuchtvoll Wirbelndes, Beschwingtes, Dahinschmelzendes. In der Tat, anders als die meisten Tänze ist der Wiener Walzer, die Urform des Sujets, die Vermählung von Aufbruch und Innehalten, von Stärke und Hingabe, von Ertüchtigung und Niedersinken. Dies alles findet statt auf drei Schlägen – und die Zwei und die Drei sind die sanfte Aufhebung der virilen Bekundung, die auf der Eins stattfindet. Ähnliches hat keine Polka, keine Polonaise, kein Paso Doble zu bieten; am ehesten kommt dem Walzer die Rumba nahe, wenngleich sie in ihrem arhythmischen Raffinement (Ausfallschritt auf die Vier, also die eigentlich unwichtigste Taktzeit) ihrerseits zu den innigsten, melodramatischsten, verführerischsten Tänzen zählt.

Der Walzer beschwört Dekoration und Vergangenheit in der schönsten, reifsten Form. Deshalb können ein Festakt wie der Wiener Opernball oder die (vom Staatsopernballett) getanzten Einlagen beim Neujahrskonzert auch nur in einer Stadt aufleben, die für alle Zukunft im Gestern lebt. Der Wiener Walzer trägt einen zwar weg, aber er hält auch fest, er bewahrt. Deshalb verlangt der Walzer nach Garderobe, Etikette, Benimm, sogar kapriziösem Abstand, nicht bloß in Arm und Körperhaltung. Zum Walzer fordert man nicht salopp auf ("Wollen wir?"), zum Walzer bittet man. Ein guter Walzer beginnt bereits mit seiner Anbahnung. Insoweit ist der Walzer für Silvester und Neujahr ideal: Alles ist im Fluss, alles geht weiter, aber es bleibt hoffentlich ein bisschen so, wie es ist. Façon wird bewahrt. Ein Komponist wie Maurice Ravel machte sich diese Erkenntnis zunutze, als er seine grandiose Walzer-Persiflage "La Valse" komponierte.

Zugleich verlangt der Wiener Walzer entschieden nach Platz, denn er greift aus wie kein anderer Tanz. Wenn Tänzer einmal in Fahrt sind, trägt sie der Walzer fort in dauernden Veränderungen der Position. Bei großen Bällen ist das manchmal nicht möglich, aber sobald sich die Reihen gelichtet haben, erkennt man die Liebhaber und die Könner an der Art, wie sie Terrain erobern. Trotzdem kommt es bei keinem anderen Tanz so oft zu Kollisionen mit anderen Paaren wie beim Wiener Walzer.

Eine weitere Komponente des Wiener Walzers ist die Häufigkeit eines neurologischen Syndroms: des Schwindels. Wo sich so oft und geschwind der Raum unter den Füßen ändert, kommt es fast zwangsläufig zu Irritationen des Gleichgewichts, das ja im Innenohr verankert ist. Auch hier gilt: Feste Führung ist die halbe Miete. Deshalb sollten Männer, die etwa am Morbus Menière leiden (der klassischen medizinischen Trias aus Hörsturz, Tinnitus und Schwindel), tunlichst nur auf Bälle gehen, die sich nicht vordringlich auf den Walzer konzentrieren. Das beste Mittel, um dem Schwindel zu entgehen, ist übrigens die Konzentration auf das Augenpaar des tanzendes Gegenübers.

Der langsame Walzer ist scheinbar die Aufweichung der Form, und tatsächlich ist er deutlich langsamer, geruhsamer, weicher. Ist er auch erotischer? Mag sein, denn er lässt mehr Körperkontakt zu, er hat nicht dieses Element des Hochfahrenden, Kopfgespreizten. Der langsame Walzer ähnelt dem Wiegenlied. Wenn zwei Menschen auf dem ersten gemeinsamen Ball gewienerwalzert haben, sollten sie sich bei Sympathie den langsamen Walzer nicht entgehen lassen. Das gilt auch für Konditionsschwache: Hier ruht man aus, verschnauft, lässt es ruhiger angehen.

Aus internistischer Sicht sind beide Varianten dringend zu empfehlen, und die Mischung aus Tempo und Sachtheit macht den gesundheitlich relevanten Grad des Walzertanzens aus. Natürlich sind alle Tänze im Sinne der menschlichen Ertüchtigung hilfreich, aber kein Tanz bietet auf so komfortabel-unauffällige Weise eine optimale Abbildung des physiologisch primären Vorgangs allen Lebens: des Atmens, des Herzschlags.

Schlussendlich möchte man zu Silvester und Neujahr ins weite Rund rufen: Leute, geht walzern! Der Walzer ist kein schwieriger Tanz. Er kommt aus uns selbst. Bei der nächsten Eins treffen wir uns sowieso alle wieder – lachelnd, beglückt, beseelt.

(RP)
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