Gastbeitrag von Heribert Prantl Heimat ist, was Halt gibt

Der alte Begriff der Heimat ist viel zu wertvoll, als dass man ihn Deutschtümlern und Rechtsradikalen überlassen sollte. Ein Plädoyer.

Heribert Prantl: "Heimat ist, was Halt gibt"
Foto: Grafik: Ferl

Wir müssen wieder über Heimat reden. Weil man die Heimat nicht denen überlassen darf, die damit Schindluder treiben. Heimat ist kein populistisch-extremes Wort. Es ist ein vertrautes Wort, es gehört zu den schönsten Wörter der deutschen Sprache. Es ist zart und kraftvoll. Es scheint in die Kindheit, es weckt Erinnerungen, es steht für Sehnsüchte. Kann man mit diesem Wort Politik machen? Man kann. Deshalb war das Wort jahrzehntelang suspekt. Heimat ist in Deutschland so verklärt und verkitscht worden, dass aus einem Wort der Geborgenheit ein Wort der Verlogenheit wurde. Und es ist missbraucht worden; es wurde verarbeitet zum Duft- und Lockstoff der Deutschtümler. Aus einem der deutschesten der deutschen Wörter wurde, wohl gerade deswegen, ein ungutes, eines, das in den ranzigen und braunen Ecken der Gesellschaft zu Hause war. Das war ein Fehler; diesen Fehler hat die demokratische Politik erkannt.

In Nordrhein-Westfalen, in Bayern und im Bund wurde ein Heimatministerium eingerichtet. Man muss sich darüber nicht gleich wieder lustig machen. Es ist ja gewiss richtig, dass man das Wort Heimat nicht den Rechtsradikalen überlassen darf; der Gehalt des Wortes ist zu wertvoll. Es darf aber auch nicht sein, dass man das Wort nur als Etikett auf eine Politik klebt, die man eh schon immer gemacht hat: Den Grünen wird sie dann einfach zum Synonym für Umweltschutz und Energiewende. Den Sozialdemokraten wird sie ein anderer Ausdruck für Solidarität. Die CDU klebt das Wort Heimat auf ihren Konservativismus. Und die AfD erklärt ihre Anti-Flüchtlingspolitik zur Heimatpolitik. Es wäre wenig sinnhaft, wenn das Reden von Heimat nur das alte Geschwurbel über Identität ablösen würde.

Was ist Heimat? Heimat ist mehr als eine Postleitzahl, mehr als eine Adresse irgendwo. Heimat ist das, was Halt gibt. Eine Politik, die Halt gibt, ist eine Politik gegen den Extremismus. Die Menschen brauchen Wurzeln, Wurzeln geben Halt.

Was ist Heimat? Unlängst habe ich die Werke des böhmischen Schriftstellers Johannes Urzidil gelesen. Urzidil war ein Zeitgenosse von Kafka, Brod und Werfel, er ist 1939 vor Hitler erst nach Großbritannien und dann in die USA, nach New York, emigriert. Statt dort seiner verlorenen böhmischen Heimat nachzutrauern, setzte er ihr ein Denkmal: Inmitten der Wolkenkratzerriesen von New York machte er seine Streifzüge durch seines Vaters Apothekenkästchen und durch die böhmische Geschichte. Er schrieb über Böhmen als „Die verlorene Geliebte der europäischen Geschichte“. Er baute seine böhmischen Dörfer in New York wieder auf, nicht als Heimat- oder Heimwehidyllen, sondern als Visionen einer unverlierbaren Geschichte. „Meine Heimat ist“, so schrieb der Dichter, „was ich schreibe“.

„Meine Heimat ist, was ich schreibe“: Das ist für einen Journalisten wie mich auch kein schlechtes Motto. Bei mir ist es eher so, dass Heimat das ist, worüber ich schreibe. Ich schreibe als politischer Journalist über die Demokratie, über den Sozialstaat und über Europa – und ich glaube, dass die Konkretisierung dieser abstrakten Begriffe sehr viel mit Heimat zu tun hat.

Gibt es die Heimat in der Demokratie? Wenn Demokratie gelingt, wird sie zur Heimat für die Menschen, die in dieser Demokratie ihre Zukunft miteinander gestalten. Es gibt ja Leute, die meinen, Demokratie sei nicht sehr viel mehr als eine Kiste: 90 Zentimeter hoch und 35 Zentimeter breit. Oben hat die Demokratie einen Deckel mit Schlitz. In der Tat: Alle paar Jahre, in Deutschland immer an einem Sonntag, kommen viele Leute zu diesen Kisten. Die Kiste heißt „Urne“, also genauso wie das Gefäß auf dem Friedhof, in dem die Asche von Verstorbenen aufbewahrt wird. Wahlurne – das ist ja ein merkwürdiger Name, denn die Demokratie wird ja an diesen Wahltagen nicht verbrannt und beerdigt; im Gegenteil: Sie wird geboren, immer wieder neu, alle paar Jahre. Wahltage sind die Geburtstage der Demokratie. Aber das Leben besteht ja nicht nur aus Geburtstagen.

Demokratie ist daher noch sehr viel mehr als eine Wahl. Demokratie findet an jedem Tag statt, sie muss an jedem Tag stattfinden, nicht nur alle paar Jahre, an einem der Urnen-Tage. Demokratie ist ein Prinzip, ein Grundprinzip. Sie ist ein gesellschaftliches Betriebssystem.

Demokratie ist das erfolgreichste, beste und friedlichste Betriebssystem, das es für ein Land gibt. Es ist ein Betriebssystem, bei dem alle, die in einem Land wohnen, etwas zu sagen haben – auch diejenigen, die nichts sagen können, weil sie eine Behinderung haben, die ihnen das Sprechen verwehrt. Demokratie heißt: Jeder hat eine Stimme, keiner ist mehr wert als der andere, alle sollen mitbestimmen, was zu geschehen hat. Junge und Alte, Altbürger und Neubürger, Menschen mit und ohne Behinderungen. Und was ist mit der Heimat Europa? Wenn Europa nicht mehr nur eine Union für die Wirtschaft wäre, sondern eine Union für die Menschen, dann könnte Europa langsam zur Heimat werden – trotz alledem, trotz Brexit und neuem alten Nationalismus; oder gerade deswegen, weil sich eine junge Generation ihre europäische Zukunft nicht von nationalistischen alten Säcken wegnehmen lassen wird.

Unser Autor Heribert Prantl (65) leitet das Meinungsressort der Süddeutschen Zeitung.

Dieser Text ist Auszug einer Rede, die Heribert Prantl in Düsseldorf hielt. Hier finden Sie einen Videomitschnitt:

Die Reihe „Düsseldorfer Reden“ wird veranstaltet vom Schauspielhaus in Kooperation mit der Rheinischen Post. Restkarten gibt es noch für die Rede von Alice Schwarzer am 28. April um 11 Uhr im Düsseldorfer Schauspielhaus am Gustaf-Gründgens-Platz. Karten erhalten Sie unter Telefon 0211-369911 oder per E-Mail unter karten@dhaus.de.

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