Düsseldorf Hauptmann sah sich als zweiter Goethe

Düsseldorf · Vor 150 Jahren wurde der Gerhart Hauptmann geboren. Er galt bereits zu Lebzeiten als Klassiker.

Als der ältere Gerhart Hauptmann bei seinem Spaziergang über eine Wiese vom Gärtner angehalten wurde, doch den Weg zu benutzen, soll der Dichter verdutzt entgegnet haben: Wissen Sie eigentlich, wer ich bin? Natürlich, habe darauf der Gärtner erwidert, dieser Goethe sei er. Dass Hauptmann diese Geschichte gern erzählte, war nur zum Teil ihrem Unterhaltungswert geschuldet. Für Hauptmann diente die Anekdote als ein weiterer Beleg seiner literarischen Nachfolge des Olympiers aus Weimar. 1932 wird Hauptmann eine Art Weltreise unternehmen, er aber nennt sie eine "Wanderfahrt unter dem Zeichen Goethes". Sie führt ihn unter anderem nach Düsseldorf

Und sah Hauptmann im Alter nicht auch ein wenig so aus wie "dieser Goethe"? Wurde somit die Physiognomie zum Hinweis auf die Bedeutung seines Werkes? Ein Klassiker schon zu Lebzeiten?

Das auf jeden Fall. Hauptmann hat sich als einen neuen Dichterfürsten auch inszeniert, er pflegte den Gestus des Genies, diktierte seine Texte wie Goethe, trug zudem häufig eine Franziskanerkutte, in der er 1946 auch begraben wurde. Das glitzernde Etikett des Klassikers aber hat bedenkliche Nebenwirkungen. Eine davon: Hauptmanns Stücke werden heute selten gespielt, seine Prosa kaum gelesen. Sicher, der "Bahnwärter Thiel" ist nach wie vor Schullektüre, doch ist es oft solch verordnete Lektüre, die einen Autor endgültig für tot erklärt. Der Klassiker-Nimbus hat auch Zeitgenossen zu literarischen Parodien provoziert. Thomas Mann lässt im "Zauberberg" von 1924 Hauptmann – damals schon Literaturnobelpreisträger – stammelnd in der karikierenden Figur des exzentrischen Mynheer Peeperkorn auftreten.

Ist somit alles sorgsam in den Schubladen literarischer Archive abgelegt? Sind seine großen Dramen wie "Vor Sonnenaufgang", "Einsame Menschen", Die "Weber", "Der Biberpelz", "Fuhrmann Henschel" und "Rose Bernd", "Die Ratten" und "Vor Sonnenuntergang" nur Kapitel der Literaturgeschichte?

Wie vital man sich seinen Werken noch widmen mag, lebendig bleibt vor allem das Menschenbild seiner besten, also frühen Stücke, die im Geiste des Naturalismus geschrieben sind. Hauptmann bringt die kleinen Leute auf die Bühne, und er ist ehrlich genug, sie nicht zu Helden zu stilisieren. Es sind Menschen, die mit dem Leben schlecht fertig werden, die unbehaust sind, ratlos und der Gesellschaft entfremdet. Es geht ihm darum, den Verfall einst bürgerlich gefestiger Familien darzustellen. In diesem Sinne war Hauptmann vor allem ein Anwalt tiefer Menschlichkeit.

Das war zu seiner Zeit schon aufregend genug. Und die Reaktionen damals dokumentieren es. So kündigt nach einer Aufführung der "Weber" Kaiser Wilhelm II. seine Loge im Deutschen Theater. Der Monarch ist so verletzt, dass er auch sein Wappen aus dem Schauspielhaus entfernen lässt. Auf wenig Gegenliebe stößt 1913 auch Hauptmanns "Festspiel in deutschen Reimen". Es wurde in Breslau zur Jahrhundertfeier der Befreiungskriege gegeben. Ein Stück, das den Wunsch nach Frieden formuliert. Ein solches Ansinnen war zu dieser noch kraftstrotzenden Zeit kaum opportun. Auf Betreiben des Kronprinzen und diverser Kriegsvereine verschwand das Werk bald vom Spielplan.

Das freilich sind alles noch dezente Kommentare im Vergleich zu jenen Reaktionen, mit denen die Uraufführung von "Vor Sonnenaufgang" 1889 in Berlin bedacht wird. Immer wieder gibt es Zwischenrufe, wenn es derb zugeht auf der Bühne. Als es aber im fünften Akt zur Geburtsszene kommt – nur hörbar hinter den Kulissen –, ist ein Besucher nur schwer daran zu hindern, protestierend mit einer Geburtszange in der Hand den Ort des Spiels zu stürmen.

Natürlich war ein skandalsuchendes Rezeptionsverhalten Ausdruck der Zeit. Aber es spricht eben auch für Hauptmanns Fähigkeit, Menschen und ihre Nöte intensiv und einprägsam darzustellen. Das vor allem war seine Fähigkeit. In den naturalistischen Stücken erreichte Hauptmann früh den Gipfel seines Schaffens. Und es flachte ab mit dem Ende naturalistischer Darstellungen. Hauptmann versuchte sich später in vielen Stilformen: in philosophischen Dramen mit Versen, in neoromantischen Stücken und Schauspiele mit Märchenmotiven.

Was blieb, war sein Status, als Schriftsteller Deutschland zu vertreten. Das wurde ihm auch möglich, da er politisch fast beliebig war. Dazu wird gerne der alte Ansorge zitiert, der sich in "Die Weber" mit dieser Äußerung aus der Affäre zieht: "Nu ja ja! – Nu nee nee!"

Nicht nur seine Literatur spiegelt deutsche Geschichte, auch Hauptmanns Leben. Vor 150 Jahren – am 15. November 1862 – wird er im schlesischen Ober Salzbrunn geboren. Und er bleibt bis zum Tode ein Dichter Schlesiens. Als er am 6. Juni 1946 in seinem geliebten Haus "Wiesenstein" im schlesischen Agnetendorf stirbt, steht er zwar unter dem Schutz des russischen Oberst Sokolow, der den für seine Sozialkritik bekannten Autor schätzt. Doch beerdigt werden darf Hauptmann – nach einer Entscheidung der polnischen Machthaber – in heimatlicher Erde nicht. So beginnt eine lange Irrfahrt des toten Hauptmann in einem Zinksarg: Nach sechs Wochen erst kann er auf der Ostseeinsel Hiddensee bestattet werden.

Abschied genommen hatte der Dichter von seiner Heimat schon im Februar 1945, als er die Zerstörung Dresdens miterleben musste. Der 82-Jährige weilte zu dieser Zeit in der Nähe zu einer Kur. Der Untergang der Stadt bedeutete ihm der Bruch mit allem, sogar mit Goethe, wie er später in einem Gedicht schreibt: "Entschuldige, Goethe, ich nenne nicht mehr deine Historie ein Wunder, sondern Plunder! . . ."

(RP)
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