Köln Hamlet in der Psychiatrie

Köln · Boris Nikitin zeigt Shakespeares Stück beim Impulse-Festival als Performance.

Als letzter von sieben (!) Eröffnungsrednern erzählte der scheidende Leiter des Theater-Festivals Impulse, Florian Malzacher, im Foyer des Schauspiels Köln eine Legende über die Familie Bach: Ein Sohn Johann Sebastians habe einmal ein Stück auf dem Cembalo kurz vor Ende abgebrochen. Mitten in der Nacht sei der Vater aufgestanden und habe den fehlenden Schlussakkord gespielt - vorher fand er keinen Schlaf. "Bei uns müssen Sie auf den alles zusammenfassenden Schlussakkord leider manchmal verzichten", so Malzachers Pointe. Denn auch wenn die freie Szene dem Fördergebot der Stunde folgt und viel politisches Theater macht, so will sie dabei keinesfalls nützlichkeitsbestimmt vorgehen. Ihr Performance-Theater soll Fragen stellen, Diskursfäden baumeln lassen, nicht unbedingt konkrete Handlungsanweisungen geben.

Der "Hamlet" des Regisseurs Boris Nikitin war das perfekte Eröffnungsstück: "Das ist kein Theater. Das ist nicht das wahre Leben. Das ist nicht der erste Akt", proklamierte der Performer, der auch mit der Schreibweise seines Namens konkreten Zuschreibungen - nämlich den geschlechtlichen - aus dem Weg geht: Julia*n Meding. Auf der offenen Bühne des Depots 2 spricht er keinen Shakespeare-Text, sondern nutzt den "Hamlet" als Folie für eine Erzählung eines unsicheren Lebens im westlichen Kulturkreis.

Medings Sprachgestus, seine Körpersprache und seine Mimik könnten als Überspitzung einer depressiven Teenager-Figur gelesen werden. Einer Figur, die erst erkennt, in welche Welt und Gesellschaft sie hineingeboren wurde, die in ihr zweifelt und an ihr verzweifelt. Damit ist die direkte Verbindung zu Shakespeares Königssohn, dem großen Zweifler, hergestellt.

Auch Medings Hamlet-Wiedergänger hat seinen Vater verloren, erzählt vom Moment, wenn der Körper zur leblosen Hülle wird und der Sohn dieses Bild nicht mit seiner Realität in Übereinstimmung bringen kann: "Deshalb glauben viele Menschen, Geister zu sehen." Ist dieser Hamlet ein klinischer Fall? Das ist eine der Fragen, die der Abend stellt. "Es gibt in unserer Gesellschaft ein Recht auf Geheimnis, aber ich fänd es besser, wenn man mit dem Schamhaften mehr nach außen könnte, wenn ich eingestehen könnte: Ich bin fertig", proklamiert Meding.

Mit Videobildern aus einer psychiatrischen Klinik, mit wunderbar rotzigen Songs, die die Themen der beiden Hamlets umkreisen, und Musik des Barock-Ensembles "Der musikalische Garten" schafft diese grandiose One-(Wo)Man-Show, was Shakespeare-Inszenierungen oft nicht mehr vermögen: ein intensives Gefühl für eine gebrochene Figur zu vermitteln.

(RP)
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