Düsseldorf Großartiges Album von Bob Dylan

Düsseldorf · Die schönste Stelle auf diesem Album ist der Beginn des 14-minütigen Titelstücks. Bob Dylan erzählt in 45 Strophen den Untergang der "Titanic", natürlich nicht so, wie er sich tatsächlich zugetragen hat, sondern so, wie es dem Storyteller in den Kram passt: düsterer, gleichnishafter. Bei ihm sinkt das Schiff nicht bloß auf den Meeresgrund, sondern in die Unterwelt, schließlich ist der Song nach dem letzten Drama Shakespeares betitelt: "Tempest". Dylan berichtet aus der Sicht einer Frau, und zu Anfang kommt es einem vor, als würde er die Stimme verstellen, eine rührende schauspielerische Einlage, der schartige Hornhautraspler probt Zuckersüßlichkeit. Aber es geht nicht lange gut, und bald krächzt er die "sad, sad story" einfach ins Finale: "No change, no sudden wonder".

"Tempest" erscheint heute, es ist das 35. Album der bedeutendsten lebenden Figur der Rockgeschichte, und das ist keine Musik, sondern klingende Dichtung. So düster und mythenschwer, so wuchtig und urtümlich ist das, dass man als Vergleiche die großen amerikanischen Lyrik-Zyklen "Die Toten von Spoon River" (1915) von Edgar Lee Masters und Hart Cranes "Die Brücke" (1930) heranziehen möchte.

Wer die Platte auflegt, wird sich vorkommen, als betrete er ein Festzelt irgendwo am Mississippi, das Tuch der Außenhaut ist schmutzig, die whiskeydunstige Luft drinnen schwer, und auf der Bühne steht ein alter Mann mit komischen Haaren. Aus seinem Mund purzeln Geschichten und Bilder, der Kerl grinst, man sieht ihm in die Augen und weiß nicht, ob er 100 oder 200 Jahre alt ist, ob er es ernst meint oder ob er seine Zuhörer einfach nur verhext.

Jedenfalls: "Tempest" fügt sich ein in das hochklassige Spätwerk Dylans, in diese Reihe von Veröffentlichungen, die 1997 ihren Anfang nahm mit "Time Out Of Mind" und als deren Höhepunkt "Love And Theft" von 2001 gilt. Dylans Band spielt wie immer, Shanty-Folk, Western-Swing, Blues-Schunkler und Moll-Zärtlichkeiten, aber Dylan orakelt noch abgründiger und böser über den Weltgeist als gewohnt, er betreibt Exegese und prophezeit das Eintreffen der Wahrheit. In den zumeist auf Refrains verzichtenden Songs treten die Geister einer Südstaaten-Stadt auf, Leonardo DiCaprio und John Lennon, und schließlich ist man unsicher, ob all diese Figuren nicht schon im "Moby Dick" vorkamen.

Das ist auch ein gutes Buch.

(RP)
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