Premiere in Düsseldorf 22.34 Uhr: Julia stirbt nicht

Düsseldorf · Gounods „Roméo et Juliette“ in der Düsseldorfer Rheinoper ist auch das Lokalderby zweier Familien. Eine Musikkritik als Live-Ticker.

 Luiza Fatyol als Julia und Ovidiu Purcel als Roméo in der Düsseldorfer Rheinopern-Neuinszenierung.

Luiza Fatyol als Julia und Ovidiu Purcel als Roméo in der Düsseldorfer Rheinopern-Neuinszenierung.

Foto: Hans Jörg Michel

Charles Gounods Oper aus dem Jahr 1867 (nach Shakespeare) versammelt zwei verfeindete Familien, die Capulets und die Montagues, deren jüngste Sprösslinge sich dummerweise sterblich ineinander verlieben. Am Ende werden vier Tote zu beklagen sein. Wie lange das Ganze dauert? Knapp drei Stunden – wie bei einem Samstagabendspiel mit Verlängerung, Nachspielzeit, zehnminütigem Flutlichtausfall und Elfmeterschießen. Wir sind dabei und tickern.

19.35 Uhr Beginn erster Akt. Die Ouvertüre zeigt schon, wo Amors Pfeile und wo die Dämonen hängen: Die Musik ist becircend und abgründig. Die Düsseldorfer Symphoniker treten in voller Mannschaftsstärke an. Ein bisschen schimmert Wagners „Holländer“ durch. Zwischendurch gibt es sogar eine Fuge.

19.37 Uhr Die Feierbiester bei den Capulets tanzen wie wild zu der Fuge, das sieht blöd aus. Man ahnt: Regisseur Westerbarkei wird heute vieles mit den Leuten anstellen, das nicht in der Partitur steht.

19.39 Uhr Der Chor teilt im Prolog mit, worum es in der Oper geht und wie sie endet. Das weiß beim Fußball glücklicherweise keiner vorher.

19.43 Uhr Eine junge Frau im silbernen Paillettenkleid – es ist Juliette – steht auf einem Stuhl, übrigens schlecht ausgeleuchtet. Was macht sie da oben? Sie soll einen ihr unbekannten Mann heiraten, sieht aber eher aus, als habe sie einen Wasserschaden in der Bulthaup-Küche von Papi Capuleti verursacht.

19.48 Uhr Wieso eigentlich Roméo, wieso Juliette? Die Franzosen lieben es, Namen zu französisieren, zu frankophonisieren, einzufrankophonen – ach, Sie wissen schon. Die Italiener waren aber nicht besser. Bei Romeo und Giulietta gelangt Google entweder zu einem Hotel am Gardasee oder zu italienischen Autos mit Rostlauben-Image. Wir halten uns an William Shakespeare.

19.52 Uhr Zuerst treten die Bösen auf, vor allem Tybalt, Julias Vetter, der aussieht wie Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, nur etwas kleiner, etwas dicker und mit Raucherlunge. Die Musik weiß alles über ihn, und man denkt: Das ist eine großartige, unterschätzte Oper.

19.58 Uhr Der Chor singt toll, muss aber wieder zappeln. Auch Romeos Page zappelt, als habe er etwas eingeworfen. Der Regisseur sagt, alles spiele in einer lauen italienischen Augustnacht kurz vor Mariä Himmelfahrt, deshalb im Hintergrund die kitschige Madonnenfigur auf einem grottenartigen Felsen.

20.02 Uhr Julia beschwert sich in ihrer theatralischen Arie „Je veux vivre“ (Ich will leben) über drohende Unfreiheit, sie soll nämlich als Kind den Grafen Paris heiraten. Klar, mit 13 will man noch warten, es liegt ja die ganze herrliche Pubertät vor einem. In der Rheinoper singt Luiza Fatyol, eine Rumänin, die Anfang 30 sein dürfte. Sie wirkt anfangs etwas gehemmt, steigert sich aber schnell.

20.09 Uhr Romeo und Julia – bald merken wir: Da könnte was laufen, obwohl Julias Gesicht immer noch nach Wasserschaden aussieht. Romeo dagegen, der famose Ovidiu Purcel, ist ein Heißsporn, der sein Herz auf der Zunge trägt. Er wird Julia mit Schmelz in der Stimme und grandiosen Spitzentönen amourös überfluten, und es fühlt sich richtig an. Weiter so!

20.17 Uhr Der erste Akt ist vorbei, und die Umbaupause überbrücken zwei psychotische Romeo-und Julia-Doubles, als habe sich der Regisseur David Lynchs Film „Blue Velvet“ angeschaut und die beiden mit seinen Beobachtungen infiziert. Damit jeder kapiert, dass das hier nicht von Gounod ist, hallt donnerndes Herzklopfen vom Band.

20.19 Uhr Die Balkonszene naht, doch warum Julia beim Singen auf einem Turm aus vielen Stühlen steht, kann sich keiner erklären. Geht sie auf Abstand? Schützt sie sich und die Familienehre? Wir hoffen angesichts der Höhe des Turms, dass für den Notfall ein Mannschaftsarzt anwesend ist.

20.32 Uhr Wiederum gefällt der Männerchor der Rheinoper ganz außerordentlich.

20.35 Uhr Nun steht auch Romeo auf einem Stuhl. Es geht kollektiv aufwärts, aber ob sich ihre Liebe intensiviert, bleibt weiterhin unklar.

20.38 Uhr Romeo Purcel stammt wie Julia Fatyol aus Rumänien. Die beiden könnten zusammenkleben wie Pech und Schwefel, weil sie einander auch privat gut kennen, aber der Regisseur lässt sie nur selten.

20.43 Uhr Der zweite Akt ist vorbei. Wieder setzt zur Umbaupause das Herzklopfen ein. Klingt nach normalem Puls. Haben junge Liebende nicht Herzrasen?

20.47 Uhr Romeo und Julia werden von Pater Lorenzo auf jener Grotte, die nun ein hübscher Kletterfelsen ist, heimlich getraut, und beim Jawort steht Julia ganz oben. Gute Aussicht über Verona, allerdings nicht für uns im Publikum.

21.02 Uhr Die Talfahrt ist bitter, denn unten in der Stadt holt der Streit der Familien alle ein, und es gibt es den ersten Toten: Tybalt ersticht Mercutio, Romeos Kumpel. Dazu heftiges Stroboskop-Blitzlichtgewitter.

21.04 Uhr Romeo rächt diesen Mord – oder Totschlag im Affekt, das soll der Richter entscheiden – und ersticht Tybalt.

21.08 Uhr Der Herzog ordnet Romeos Verbannung ins Exil an. Der singt seine folgende Arie im Dunkeln. Soll das so sein?

21.14 Uhr Ende dritter Akt. Pause. Wir werden mal Stimmen einsammeln.

21.47 Uhr Beginn vierter Akt. Das Publikum ist gemischt in seinen Gefühlen, allgemein findet der Romeo von Ovidiu Purcel den größten Anklang. Bei der Inszenierung weiß niemand so recht, was das alles soll. Jemand sagte, der Regisseur sei wohl noch sehr jung und wolle sich profilieren.

21.49 Uhr Die Liebesduette der Titelhelden sind die Highlights des Abends. Wenn wir nur von dieser Liebe mehr sehen könnten! Irgendwie unterfliegt der Regisseur das Stück, als sei es ihm peinlich, die Geschichte 1:1 in aller Genauigkeit zu erzählen. Das muss ja nicht mit mittelalterlichen Kostümen passieren.

21.51 Uhr War es die Nachtigall oder die Lerche? Jedenfalls wissen jetzt einige im Publikum wieder, wo dieses Zitat herkommt. Und die Streicher der Symphoniker flöten und singen delikat.

22.05 Uhr Julia soll jetzt doch Paris ehelichen. Tybalts verwahrloster Geist schleicht über die Bühne und sieht jetzt kaum noch aus wie Andreas Scheuer. Die Leute tragen Beerdigungs-Outfit, dabei soll geheiratet werden. Das ist ein starker Moment der Inszenierung. Auch das Licht stimmt jetzt. Dass Tybalts Geist seine Cousine Julia ins Brautkleid zwängt, ist eine eindrucksvolle Idee.

22.06 Uhr Eine Unachtsamkeit bei den Kostümen? Romeo hat Tybalt mit dem Messer in den rechten Leberlappen getroffen. Das Hemd des Toten ist aber über der linken Brust blutverschmiert. Jetzt könnte ein Videobeweis helfen.

22.16 Uhr Julia müsste nach ihrem Schlummertrunk wie tot im Brautkleid auf der Bühne liegen, aber sie wird selbst zum Geist. Das Brautkleid, dem sie wieder entstiegen ist, liegt auf dem Boden.

22.21 Uhr Romeo umarmt das Brautkleid und merkt nicht, dass keine Frau drinsteckt. Julia schaut gleichsam von außen und irgendwie teilnahmslos zu, wie Romeo Gift nimmt. Man muss sich in modernen Inszenierungen immer sehr viel denken und weiß nicht recht, ob sich dieses Denken am Ende lohnt.

22.29 Uhr Das berühmteste Liebessterbepaar (neben Aida und Radames bei Verdi) singt ein herrliches Duett. Große Oper ist unschlagbar darin, Verbleichenden kurz vor ihrem Ableben noch ein paar total rosige gesunde hohe kostbare romantische glühende Töne abverlangen.

22.32 Uhr Hallo, was ist da los? Vor dem Exitus klettert Julia wieder auf ihren Stuhl. Erneut hat sie ihr Brautkleid angezogen. Ist das noch ihr Geist? Ist sie tot oder was?

22.34 Uhr Julia hat sich nicht erstochen, sondern lässt sich von Paris zurück zu den Feierbiestern führen. Sie stirbt nicht und wird gleich diesen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Ist das vielleicht ihre selbstgewählte Form von Tod? Oder war die ganze Romeo-Geschichte des Abends ein erlebter innerer Traum einer jungen Frau, die gleich zwangsverheiratet wird? Wir rudern in unserer Einschätzung zurück: Dass eine Inszenierung uns so zum Nachdenken bringt, ist nicht das Schlechteste. Wer das alles nicht mag, kann sich immer noch an die Musik halten.

22.39 Uhr Beifallsstürme für Romeo und Julia, händisch deklarierte Freundlichkeiten für alle anderen.

Dieser Text ist kein gewöhnlicher. Er gehört zu einer Sonderausgabe der Rheinischen Post am 1. April 2019. Geplant und gestaltet wurde diese nicht von der RP-Redaktion, sondern von zwei „Chefredakteuren für einen Tag“: Schauspielerin Annette Frier und Kabarettist Konrad Beikircher. Mehr dazu und alle Texte dieser Sonderausgabe finden Sie hier.

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