Düsseldorf Gottes Geist im Slum von Santiago

Düsseldorf · Karoline Mayer, die "Mutter Teresa Lateinamerikas", hat in Chile ein großes soziales Netzwerk mit Krankenstation, Schulen, Kindergärten gegründet. Kraft schöpft sie aus der Liebe Gottes – die sie bei der Arbeit mit den Armen erfährt.

Dem Heiligen Geist begegnet Karoline Mayer jeden Tag. Sie muss nur morgens vor die Tür ihres 50-Quadratmeter-Häuschens in einem der Armenviertel von Santiago de Chile treten. Da warten sie dann schon: Menschen, die medizinische Hilfe brauchen oder Arbeit suchen oder nur jemanden, der ihnen zuhört. Karoline Mayer hilft, vermittelt Arbeit, hört zu. Sie tut das seit mehr als 40 Jahren an einem der ärmsten Flecken der Welt, weil sie genau dort Gott begegnet. Weil sie dort spürt, dass das, was Gläubige den Heiligen Geist nennen, von dieser Welt ist, dass er unter den Menschen wirkt. "Die Liebe Gottes ist eine unaufhörliche Kraftquelle für mich", sagt Mayer, "ich begegne dieser Liebe in der Schrift, in dem, was Jesus verkündet und getan hat, aber konkret wird Gottes Liebe in der Begegnung mit anderen Menschen."

Darum ist Karoline Mayer auch Missionarin geworden. Sie wollte anderen Menschen von der Kraft erzählen, die sie durch ihr eigenes Leben trägt. "So viele Leute haben Angst vor Gott, weil sie gegen irgendwelche Gebote verstoßen haben und glauben, das sei entscheidend", sagt Schwester Karoline, "sie fühlen sich nicht im Fluss von Gottes Liebe, fühlen nicht, dass sie getragen werden, das ist ein großer Schaden – und Mahnung an uns, Gott richtig zu verkünden."

Karoline war elf Jahre alt, als sie zum ersten Mal spürte, dass sie vielleicht in die Welt hinausziehen sollte, um von ihrem Gott zu erzählen. Damals, in den 50er Jahren, schmökerte sie gern in den Heften "Weltmission" der Steyler Missionare, ließ sich begeistern von deren Lebenswegen und empfand seltsam klar, dass sie ihr oberbayerisches Zuhause, die Wärme ihrer Familie verlassen müsse, um eine andere Heimat, ihren Lebenssinn zu finden.

Sie hat diese Idee gegen viele Widerstände durchgesetzt, ist bereits mit 14 auf das Internat der Steyler Missionare bei Venlo gegangen, in den Orden eingetreten, wurde nach Chile entsandt. 1968 kam sie in Santiago an, machte eine Ausbildung zur Krankenschwester und wollte schon bald nicht mehr im sicheren Viertel bleiben, in dem ihr Orden den Konvent unterhielt. Schwester Karoline wollte bei den Armen leben, nicht auf Stippvisite bei ihnen vorbeischauen, sondern ihr Schicksal teilen. "Ich verstehe mich als Jüngerin Jesu", sagt Karoline heute, "ich versuche zu handeln, wie er es vorgelebt hat, das heißt, ich arbeite zusammen mit meinen Geschwistern in Chile, wir sind Komplizen im Dienst an den Menschen."

Schwester Karoline ist das wichtig, weil sie weiß, wie anders der Missionsbegriff früher verstanden wurde, wie sehr auch Entwicklungshilfe bei allem guten Willen geprägt war von einer Haltung des Gönnerhaften. "Hilfe kann auch demütigen", sagt Karoline. In ihren ersten Jahren als Ordensfrau im Armenviertel hat sie die Skepsis der Menschen erlebt, die sich nicht vorstellen konnten, dass eine Weiße aus der Oberschicht es bei ihnen aushalten würde. "Du wirst wieder gehen, haben die Menschen zu mir gesagt", erinnert sich die zähe, zierliche Frau, die noch immer mit bayerischem Akzent spricht, der warm klingt und zugleich energisch. "Diese Sätze waren jedes Mal eine Ohrfeige für mich."

Doch tatsächlich sollte der Moment kommen, da ihr Versprechen, das Leben der Armen zu teilen, auf die Probe gestellt wurde: 1973 putschte das chilenische Militär gegen die Regierung Allende. General Augusto Pinochet übernahm die Macht, das Militär errichtete überall im Land Geheimgefängnisse, in denen Oppositionelle zu Tode gefoltert wurden.

Karolines Orden entschied damals, seine Missionare in Sicherheit zu bringen. Doch die junge Schwester aus dem Armenviertel wollte die Menschen, deren Vertrauen sie so mühsam errungen hatte, nicht allein lassen. So entschied sie sich, ihr Gehorsamsgelübde zu brechen, den Orden zu verlassen, an der Seite der Armen zu bleiben und mit ihnen die Zeit der Militärdiktatur durchzustehen. Diese Entscheidung sei ihr unendlich schwer gefallen, sagt Karoline. "Ich habe gerungen, aber am Ende habe ich mich an Gott geklammert, habe ihm gesagt: Ich geh mit dir durchs Feuer", sagt sie.

Heute ist Karoline Schwester der Gemeinschaft Jesu, einer geistlichen Gruppe, die in der örtlichen Diözese beim Erzbischof von Santiago angesiedelt ist. Ihr kleines Haus im Armenviertel teilt sie mit zwei Mitschwestern, außerdem gehören Laien – Verheiratete, auch Familien – zu der Gemeinschaft. "Wir sind alle gleich", sagt Schwester Karoline, "wir bauen gemeinsam am Reich Gottes."

Das gelingt nicht immer harmonisch, auch das hat Karoline erlebt. Die Menschen, mit denen sie die ersten Basisgemeinden in Santiago gründete, schlossen sich bald zu sozialen Projekten zusammen, gründeten eine Volksküche, einen ersten Kinderhort. In den 70er Jahren wuchs dieses soziale Netzwerk schnell, misstrauisch beobachtet von der Militärdiktatur. Weil Karoline und ihren Verbündeten jederzeit Verhaftung drohte, suchten sie den Schutz der Kirche, gründeten die Stiftung "Fundación Missio", aus Selbsthilfe wurde eine Institution. Die wuchs weiter und schaffte es elf Jahre lang, soziale und politische Unterschiede der Mitglieder auszuhalten.

Doch Ende der 80er Jahre schwappten politische Debatten in die Arbeit, gaben Missgunst, Ehrgeiz, Neid Vorschub, die Konflikte eskalierten. 1988 verließ Karoline die Stiftung. Dann kam ein deutsches Fernsehteam nach Chile, drehte einen reißerischen Bericht über die Probleme der Stiftung, ruinierte in kürzester Zeit das Ansehen von Karolines Lebenswerk.

Diese Erfahrung hat sie schockiert, aber nicht verbittert. "Ich habe im Leben so viel Gutes erfahren, ich kann gut verzeihen", sagt Karoline. "Wenn man etwas aus der Kraft der Liebe tut und scheitert, muss man sich daran erinnern, dass man es aus Liebe getan hat – nicht um Anerkennung zu bekommen, nicht um irgendetwas zu erreichen, nur aus Liebe. Das macht frei."

Aus dieser Freiheit hat die inzwischen 70 Jahre alte Schwester ihre Arbeit in Chile fortgesetzt, hat in einem anderen Armenviertel, in "Quinta Bella", wieder klein begonnen, hat eine Basisgemeinde gegründet, im Schutt des Slums eine Kirche gebaut, hat Menschen Mut gemacht, einander zu unterstützen und solidarisch an einer besseren Zukunft zu bauen. 1990 gründeten Karoline und ihre Gefährten eine neue Stiftung, "Cristo Vive (Jesus lebt)", die auch aus Deutschland unterstützt wird und zu einem beeindruckenden Sozial- und Bildungswerk herangewachsen ist.

"Christo Vive" unterhält unter anderem Kindergärten, Schulen, ein Gesundheitszentrum, in dem 500 Menschen pro Tag versorgt werden, eine Obdachlosensiedlung, Fraueninitiativen, Rehazentren für Drogensüchtige. Ein Handwerksausbildungssystem nach deutschem Vorbild versuchen Karoline und ihre Mitarbeiter gerade aufzubauen. Außerdem unterstützen sie Partnergemeinden in anderen Teilen des Landes, auch in Bolivien und Peru.

Als bei einem Erdbeben vor ein paar Jahren eine dieser Partnergemeinden im Süden Chiles zerstört wurde, beschlossen die Menschen im Armenviertel "Quinta Bella", Material zu sammeln, ein Haus vorzubauen und es mit dem Laster zu den Betroffenen zu bringen. Karoline erzählt davon voller Stolz. Ihre Botschaft von der Liebe, die wächst, wenn Menschen sie teilen, ist auf guten Boden gefallen. Der Heilige Geist hat gewirkt. In einem chilenischen Slum ist das Wunder von Pfingsten geschehen.

(RP)
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