Berlin Goldener Bär geht nach Italien

Berlin · Die Jury der 62. Berlinale zeichnet überraschend "Cäsar muss sterben" der Brüder Taviani mit dem Goldenen Bären aus. Eine fragwürdige Entscheidung. Immerhin: Der lange als Favorit gehandelte Christian Petzold bekommt für das DDR-Drama "Barbara" den Silbernen Regie-Bären.

Das hatte man nicht für möglich gehalten: Der Goldene Bär geht ausgerechnet an das Gefängnisdrama "Cäsar muss sterben" der italienischen Brüder Vittorio und Paolo Taviani. Damit ehrt die Jury der 62. Berliner Filmfestspiele einen halbdokumentarischen Film, der das Theaterprojekt in einem Hochsicherheitsgefängnis in Rom begleitet. Die Häftlinge proben Shakespeares "Julius Cäsar", lassen sich bewegen von den gültigen Worten des Dichters über Loyalität, Rache, Mord und entfliehen in der Kunst für wenige Stunden der Aussichtslosigkeit ihres Anstaltslebens. Das haben die Taviani-Brüder mit Humor und Leidenschaft in Szene gesetzt. Ehrenwert. Doch die Ästhetik dieses Films ist gestrig. Die Straftäter werden betulich als bemitleidenswerte Opfer in Szene gesetzt. Künstlerisch überzeugt der Film nicht.

Natürlich ist es ein aufrechtes Anliegen, für menschlichen Umgang auch mit Tätern zu werben. Aber das ist kein künstlerisches Kriterium. Die bemühte Verschränkung von Gefängnisimpressionen mit Laientheater-Proben weist ästhetisch keinen neuen Weg.

Der Goldene Bär für die Tavianis ist wohl eher als eine Verneigung vor dem Lebenswerk der 80 und 82 Jahre alten Brüder zu verstehen, die in den 70er Jahren wichtige politische Filme gedreht haben. Allein, dafür ist der Preis nicht gedacht.

Die Jury unter Vorsitz des britischen Regisseurs Mike Leigh hätte so viele dringlichere, künstlerisch anspruchsvollere Filme auszeichnen können, denn der Jahrgang war stark. Der Wettbewerb zeigte endlich einmal wieder Entdeckungen junger Autorenfilmer, die brisante Geschichten in starken Bildern erzählen. Da waren wieder Arbeiten zu sehen, die Verzweiflung, Leidenschaft, Sehnsucht nicht nur behaupteten, sondern zeigten, sichtbar, spürbar machten und dafür eine unverbrauchte Filmsprache fanden.

Doch die besten dieser Arbeiten mussten sich in Berlin mit Silbernen Bären begnügen. So bekam der lange als Favorit gehandelte Christian Petzold für sein starkes DDR-Drama "Barbara" den Bären als bester Regisseur. Im Prinzip eine vertretbare Entscheidung, denn es ist tatsächlich eine Regieleistung, dass dieser Film in seiner atmosphärischen Tönung und in der Spannung zwischen den Darstellern so stimmig ist. Doch wenn die Tavianis die Alternative waren, hätte "Barbara" auch den Goldenen Bären bekommen können.

Der beeindruckendste Film des Wettbewerbs war "Just the Wind" über eine Mordserie an Roma-Familien in Ungarn. Regisseur Bence Fliegauf begleitet darin eine Mutter und ihre beiden heranwachsenden Kinder einen Tag durch ihr Leben als Geächtete der Gesellschaft. Sie wohnen im Dreck, werden bei der Arbeit gedemütigt, die Nachbarn sind im Alkoholismus versunken.

Die Kamera zeigt das schonungslos, aber nicht voyeuristisch. Sie verweilt auf Details, die poetisch wirken könnten, wäre die Wirklichkeit nicht so verkommen, und die Laiendarsteller in diesem Film sind großartig in ihrem stillen Stolz. Die Jury hat das wohl auch gesehen, aber dem so genau beobachteten Drama dann doch nur einen Silbernen Bären zugedacht. Dem ebenfalls künstlerisch überzeugenden frankoschweizerischen Film "Das Kind von oben" von Ursula Meier spendierte sie einen Trostpreis-Bären. Nett, aber ein derart wuchtiges und dabei so dezentes Sozialdrama hätte ebenfalls Besseres verdient. So steht das Jury-Votum in diesem Jahr für lauter verpasste Chancen. Denn unverständlich ist auch, dass der brave dänische Kostümfilm "Eine königliche Affäre" für Hauptdarsteller und Drehbuch gleich zwei silberne Bären erhielt. Die Geschichte von Aufstieg und Fall des deutschen Armenarztes und Aufklärers Johan Struensee ist gut und glatt erzählt. Man fühlt sich wohl in diesem Film, aber schnell hat man ihn auch vergessen. Mikkel Boe Folsgaard spielt den irren König Christian VII. mit hübscher Exaltiertheit, doch preisverdächtig ist das nicht.

Auch der Darstellerinnen-Bär für die 14-jährige Kongolesin Rachel Mwanza ist wohl eher eine politische Entscheidung. Das ehemalige Straßenkind spielt in "Rebelle" eine Kindersoldatin, die unglaubliche Grausamkeiten durchstehen muss. Sie spielt das stoisch, verzweifelt, überzeugend. Doch nicht die schauspielerische Leistung hebt diesen Film hervor, sondern der Versuch von Regisseur Kim Nguyen, seine Figuren nicht nur als Opfer erscheinen zu lassen. Er gönnt ihnen ein paar Momente, in denen sich das Leben abzeichnet, das sie hätten führen können. Das macht den Film als Metapher für die Lage des afrikanischen Kontinents so schmerzhaft. Allerdings fällt es schwer, den Bären für Rachel Mwanza zu kritisieren, wenn man erlebt hat, mit welcher Ergriffenheit sich das junge Mädchen in Berlin bedankte. Der Film habe ihr "die Tür in ein neues Leben" aufgestoßen, sagte sie, denn seit den Dreharbeiten dürfe sie zur Schule gehen. Vielleicht darf ein Bär auch einmal nur ein Zeichen sein.

Nach Petzold konnte sich noch ein Deutscher über einen Silberbären freuen: Kameramann Lutz Reitemeier wurde für seine Arbeit an dem chinesischen Historiendrama "Land des weißen Hirsches" von Wang Quan'an ausgezeichnet. Zu Recht. Seine Aufnahmen von Ähren im Wind vor blutrotem Himmel gehören zu den Bildern, die bleiben von der 62. Berlinale.

(RP)
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