Gedichte als Internet-Sensation

Mit einem Video wurde Julia Engelmann zur Kultautorin; jetzt ist ihr erster Lyrikband erschienen.

Die Aufnahme war schon ein halbes Jahr online, erst dann begann es im Januar mit der Internetsensation: Mehr als sechs Millionen haben inzwischen Julia Engelmanns Video angeklickt, in dem sie ihr Gedicht "Eines Tages, Baby" vorstellt. Die Medien wurden aufmerksam, sie war Gast der NDR-Talkshow, und dann kam die Tour mit Tim Bendzko: Die Psychologie-Studentin trat im Vorprogramm des Popsängers mit "Stille Wasser sind attraktiv" auf. In diesem Gedicht setzt sie sich mit dem Gefühl auseinander, anders zu sein, fragt, welche Bedeutung ein Mensch für andere hat: "Und es geht doch um den Inhalt / viel mehr als um die Form. . . "

"Ich denke oft über solche philosophischen Fragen nach", sagt die 22-Jährige bei einem Treffen in einem Bremer Café. Sie mag das Rampenlicht, hat schon am Theater gespielt und eine Rolle in einer Fernsehserie übernommen, wirkt im Gespräch aber zurückhaltend, nachdenklich: "Ich interessiere mich dafür, warum etwas so ist, wie es ist, und ob es nicht auch anders sein könnte." Sie formuliert ihre Gedanken in Gedichten, stellt sie bei Poetry Slams vor: Literaturwettbewerbe, bei denen das Publikum aufgefordert ist, einen Sieger zu wählen.

An etwa 100 solcher Veranstaltungen hat sie teilgenommen, einige hat sie auch gewonnen. Als ganz besonders aber stellte sich ein Abend vor einem Jahr an der Universität Bielefeld heraus: Dort wurde das Video aufgenommen, das Julia Engelmann später berühmt machte. "Dieser Interneterfolg wird unter anderem auch auf den Blogger Kai Thrun zurückgeführt, der den Film geteilt hat", berichtet sie. Es lag natürlich auch an ihrem Auftritt, der zahlreiche Menschen berührt hat. Ganz lässt sich die Resonanz aber nicht erklären: Solchen Hypes haftet immer auch etwas Rätselhaftes an.

Sie genießt den Erfolg und das, was er nach sich zieht: Wenige Tage nach ihrem 22. Geburtstag erscheint heute ihr erstes Buch mit ihren Poetry-Slam-Texten. Titelgeber für den Band ist das Gedicht aus dem Video: "Eines Tages, Baby". Hier geht es darum, endlich zu leben, statt immer auf etwas zu warten. "Wir sind jung und haben so viel Zeit, / warum soll'n wir was riskieren? / Wir wollen keine Fehler machen, / wollen auch nichts verlieren", heißt es in dem Text.

Aber auch Julia Engelmanns Erfolgsgeschichte unterliegt den Gesetzmäßigkeiten der Medien: Was an einem Tag noch gefeiert wurde, wird am nächsten verrissen; auch das hat sie erlebt. So sehr sie der Hype überrascht hat, mit diesen Reflexen hat sie sich bereits auseinandergesetzt. "Kritik kann ja auch gut sein, man kann von ihr lernen", meint sie und klingt abgeklärt: Sie glaubt, dass sie Abstand halten und das Medientheater wegstecken kann.

Jetzt hofft sie, dass ihre Gedichte nicht nur dem Poetry-Slam-Publikum gefallen, für das sie geschrieben sind, sondern auch den Lesern - dass die Zeilen ohne den Auftritt funktionieren. Sie will weiterschreiben und an das anknüpfen, was an der Aufregung um ihr Video eigentlich interessant ist: dass sie den Nerv vieler Menschen mit einem Gedicht getroffen hat, das lebens- und alltagsphilosophische Fragen reflektiert.

(RP)
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