Friseurbesuch nach dem Lockdown Eine Hauptsache

Düsseldorf · In deutschen Friseursalons herrscht gute Laune. Nach vielen Wochen endlich wieder ein Haarschnitt! Was das für unser Wohlbefinden bedeutet, wird jetzt klar. Eine kleine Haar-Betrachtung.

 Eine Friseurin schneidet in einem Friseursalon den Pony einer Kundin (Symbolbild).

Eine Friseurin schneidet in einem Friseursalon den Pony einer Kundin (Symbolbild).

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Lockdown – runter mit den Locken! So könnte in leichter Abwandlung zurückliegender Schutzmaßnahmen das launige Motto unter all jenen lauten, die in diesen Tagen aufatmen, weil sie nach langen Wochen endlich wieder einmal zum Friseur gehen konnten. Welch ein Moment, auf dem vertrauten Stuhl Platz zu nehmen und im Spiegel allmählich lieb gewonnene Konturen zurückkehren zu sehen!

Anderthalb Monate lang mussten die etwa 80.000 Salons in Deutschland wegen der Korona-Krise geschlossen bleiben, und noch immer nehmen die Kunden nahezu jeden Termin freudig an, der ihnen offeriert wird. Schließlich wächst das Kopfhaar pro Tag zwischen 0,3 und 0,45 Millimeter. Da kann einiges zusammenkommen. Und je nach Haarfarbe gibt es mehr oder weniger zu schneiden. So haben Blonde mit 150.000 Haaren die meisten auf dem Kopf, Schwarzhaarige kommen auf rund 110.000, Brünette auf 100.000 und Rothaarige auf 80.000 Haare.

Deshalb: Ob man erst Samstag Nachmittag oder Montag Morgen drankommt – völlig egal. Haupt-Sache Haare schneiden, Haare färben, Haare föhnen. Das wirkt in diesen Tagen so, als ginge ein Entzug zu Ende. In kaum einem anderen Betrieb, der wieder öffnen darf, ist die Stimmung so gut. Mancher Mann trägt sein Haar jetzt etwas länger, wissen die, die es schneiden. Von der Frau oder Freundin sei der Hinweis gekommen, das sehe doch eigentlich gar nicht schlecht aus.

Nun ist der Besuch beim Friseur eine Dienstleistung, die im Vergleich zu anderen aus dem Rahmen fällt. Von therapeutischen Maßnahmen einmal abgesehen, kommt uns normalerweise kein Mensch, zu dem man eine rein geschäftliche Beziehung unterhält, so nahe. Schläfen werden sanft berührt, Ohren akkurat umschnippelt, Nacken behutsam rasiert. Woanders wäre das eine haarige Sache, würde der Sicherheitsabstand permanent so unterschritten. Nicht mal in der vollen U-Bahn geht es derart intim zu.

Sei’s drum, wenn die Frisur nicht (mehr) sitzt, fühlen sich die meisten Menschen schlecht. Welchen Einfluss Haar auf das Wohlbefinden haben, hat Marianne LaFrance von der US-Universität Yale vor Kurzem in der bislang größten Studie zur Haar-Psychologie untersucht. Ergebnis: Frauen fühlten sich an schlechten Styling-Tagen weniger klug, weniger belastbar, weniger beliebt und genierten sich für ihr Aussehen.

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Das eigentlich Überraschende aber war, dass das Selbstwertgefühl von Männern noch stärker unter einem als unpassend empfundenen Schopf litt. Unsicherheit, Nervosität und schlechte Stimmung kennzeichnete die Testpersonen durch die Bank signifikanter als die Probandinnen.

Waschen, schneiden, stöhnen – manchmal endet auch ein Friseurbesuch im Fiasko. Was auch daran liegen kann, dass der Kunde (vor allem Männer) seine Wünsche nicht klar kommuniziert oder nur vage Vorstellungen hat. Kein Wunder also, dass das Verhältnis zu dem, der die Schere führt, in der Regel ein recht vertrauensvolles sein muss. Schließlich legt man nicht nur sein Haupt, sondern gewissermaßen sein Schicksal in fremde Hände. Das führt mitunter zu Bekenntnissen der Kunden, die weit über gepflegten Smalltalk hinausgehen. „Da wissen wir manchmal mehr als die eigene Ehefrau oder der Mann“, heißt es in der Branche. Verschwiegenheit gehört zum Berufsethos.

Als der Verband der britischen Kosmetiker vor einigen Jahren eine Umfrage unter Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren durchführte, berichteten seinen Angaben zufolge 49 Prozent, ein guter Friseur sei schwerer zu finden als ein guter Partner. 89 Prozent sagten, sie würden einen guten Friseur deshalb niemals wechseln. Wem das allein schon etwas an den Haaren herbeigezogen vorkommt, wird über folgendes Ergebnis erst recht staunen: 26 Prozent der Befragten würden demnach sogar eher ihren Freund betrügen als ihrem Friseur untreu werden. Dass Haare ständig wachsen, hat unterm Strich mehr Vor- als Nachteile. Radikale Veränderungen sind dadurch möglich – vor allem aber sind sie reversibel. Das klappt mit keinem anderen Teil des Körpers und ist zugleich Chance und sogar Auftrag, etwas daraus zu machen. In jedem Fall lässt sich mit Haaren einiges an Persönlichkeit dazu modellieren – und sei es durch das Aufsetzen einer Perücke. „Wichtiger als das Gesicht ist die Umrahmung. Ändert die sich, sehen wir einen anderen Menschen“, erläutert Marianne LaFrance. Es ist kein Zufall, dass das Verb „frisieren“ auch so viel wie „täuschen“ bedeutet.

Die Art, wie Frauen und Männer ihr Haar gestalten, hat mit mehr als nur Mode zu tun. Frisuren waren immer auch ein Statement, das auf eine gesellschaftliche, kulturelle oder religiöse Gruppenzugehörigkeit verwies. Mönche etwa rasierten sich zum Zeichen ihrer Demut eine Tonsur, ein Ritus, der offiziell erst 1973 von Papst Paul VI. abgeschafft wurde. Andere Religionen schränken das Kürzen von Haaren ein. Das Erkennungszeichen orthodoxer Juden beispielsweise sind ihre Schläfenlocken. Im Mittelalter schrieb die Kirche verheirateten Frauen vor, ihre Haare in der Öffentlichkeit zu verbergen. Noch heute erinnert daran die Redewendung, jemanden „unter die Haube bringen“. Im wahrsten Sinne brandgefährlich werden konnte es zu jener Zeit für Frauen mit roten Haaren. Viele von ihnen wurden als Hexen verfolgt, nicht wenige endeten auf dem Scheiterhaufen.

Ebenfalls noch in Gebrauch ist das Bild von den „alten Zöpfen“, die abgeschnitten werden. Im 18. Jahrhundert war im preußischen Heer der Soldatenzopf vorgeschrieben, was stets hinderlich und irgendwann nicht mehr zeitgemäß war. Genauso waren chinesische Männer jahrhundertelang verpflichtet, einen Zopf zu tragen. Erst 1911 wurde das entsprechende Gesetz abgeschafft.

Den größten Aufwand mit Frisuren betrieben zweifellos adelige Damen in der Zeit des Rokoko. Gewagte Konstruktionen türmten sich damals auf den erlauchten Köpfen – ein ebenso zeitraubendes wie kostspieliges Unterfangen, mit dem sich die höheren Stände vom aufstrebenden Bürgertum abzugrenzen suchten.

Inzwischen machen Haare kaum noch geschlossene Gruppen oder Gegenkulturen kenntlich – es sei denn, man rasiert sie sich vollständig ab und zieht dazu ein paar Springerstiefel an. Auf solche Glatzen trifft in der Regel der Spruch zu: „Mehr Haare als Hirn.“ Die Punk-Bewegung Ende der 70er-Jahre ist jedenfalls einstweilen die letzte mit etwas Schockpotenzial gewesen. Nachahmungen wirken in der Gegenwart eher wie ein müdes Zitat. Für welche Aufregung hatten dagegen die langen Haare der Hippie-Bewegung gesorgt! Das Musical „Hair“ feierte damals die Autoritäten verachtende Jugend der späten 60er, die in Westdeutschland das im Grundgesetz verbriefte Freiheitsrecht „Eine Zensur findet nicht statt“ kurzerhand fröhlich in „Eine Frisur findet nicht statt“ umwandelte.

Nicht einmal das gepflegt wallende Haupthaar eines Anton Hofreiter, seines Zeichens Vorsitzender der Grünen im Bundestag, vermittelt indes heute noch eine überzeugende Anti-Establishment-Attitude. Allenfalls der bei Politikerinnen beliebte „Bob“ zählt zu den Frisuren, von denen noch ein gewisses politisches Signal ausgeht. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die frühere britische Premierministerin Theresa May, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, und jetzt auch die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, tragen jene Kurzhaarfrisur, die in der klassischen Form etwa kinnlang geschnitten wird und sich unkompliziert stylen lässt. „Ich habe alles unter Kontrolle“, lautet die Botschaft dieses Schnitts, die direkt aus der Drei-Wetter-Taft-Reklame stammen könnte.

Eine Botschaft übrigens, die vom wirren Haupthaar des britischen Premiers Boris Johnson eher weniger ausgeht. Und auch der „Comb over“ des amerikanischen Präsidenten ist irgendwie bezeichnend: Donald Trump sucht mit lang gewachsener, zurück gekämmter Tolle größere Lücken anderswo zu verstecken. Den einen sträuben sich darob die Haare. Die anderen raufen sie sich.

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