Französische Oper mit zwei Gesichtern

Zwei großartige Neuaufnahmen von Berlioz' "Les Troyens" und Debussys "Pelléas et Mélisande".

Was sind eigentlich die landläufig so genannten "dicken Schinken"? Die Metzger-Innung hätte dafür lebensmitteltechnisch sicher eine Erklärung. In der Literatur sind es Bücher mit mehreren hundert Seiten, spannend und mit Sogwirkung. In der Oper ist es ähnlich. In der französischen "Grand Opéra" wurde im 19. Jahrhundert alles aufgefahren, was nur ging: große Orchester, Ballette, Zwischenmusiken, virtuose Ansprüche an die Sänger, opulente Bühnenbilder und Dekorationen.

Diese Kriterien erfüllt auch "Les Troyens" ("Die Trojaner") von Hector Berlioz, der das Libretto nach Vorlagen von Vergil ("Aeneis") und Shakespeare ("Historie of the Merchant of Venice") selbst geschrieben hat. Die mehr als zehnjährige Belagerung Trojas ist gerade überstanden, das Volk lobpreist mit Leiern, Trompeten und Flöten einen scheinbar festzementierten Frieden und läuft geradewegs in die Hybris-Falle.

Diesen fünfaktigen Koloss bekommt man heute nicht alle Nase lang in den Opernhäusern zu sehen und schon gar nicht in Spar-Zeiten auf CD zu hören. Der Dirigent Colin Davis, einer der passioniertesten Berlioz-Anwälte der letzten Jahrzehnte, hat die Oper sogar zweimal aufgenommen. Jetzt kommt ein anderer Berliozianer, John Nelson, der die "Troyaner" in Straßburg aufgeführt hat, also unweit von Karlsruhe, wo 1890 posthum die erste Gesamtaufführung stattgefunden hat.

Rund 350 Musiker leitet Nelson, darunter drei Chöre und 16 Solisten, deren Besetzung (auch dank finanzieller Unterstützung aus Amerika!) luxuriös ausgefallen ist: Joyce DiDonato, Marie-Nicole Lemieux, Michael Spyres, Marianne Crebassa, Stéphane Degout und andere. Das ist nicht nur den Namen nach "de luxe". DiDonato gibt nicht nur die eiserne Königin, sondern auch eine von Gefühlen geleitete Frau. Wie sie ihren Atem kontrolliert, Höhe und Tiefe der Stimme miteinander verbindet, wie ihr Vibrato schwingt - all das ist beeindruckend. Michael Spyres ist der derzeit vielleicht beste denkbare Énée, heldisch höhensicher und nach unten baritonal abgesichert. Man könnte viele Argumente anführen - dies ist eine in fast allen Kriterien herausstechende Produktion.

Jede Entwicklung verlangt irgendwann nach einer Gegenbewegung. So folgten auf die französischen Opernschinken Kurskorrekturen: in Deutschland vor allem durch Wagner, in Frankreich, in Abwandlung des Wagnérisme, eine Umorientierung wie bei Claude Debussys "Pelléas et Mélisande", dieser fein gezeichneten psychologischen Studie. Debussy wagte 1902 in seinem "Drame lyrique" eine Art Gegenentwurf zum "Tristan". Hier wie dort stehen schicksalhafte Liebesbeziehungen im Mittelpunkt, jeweils mit tödlichem Ausgang. Debussy wusste, dass es zu seiner Form von Wagner-Abgrenzung einer neuen Art von Musik bedurfte. Er verzichtet auf alles Drängen, er schreitet.

Simon Rattle, seit September amtierender Chefdirigent beim London Symphony Orchestra, setzt auf eher dunkle Farben - was sich auch an der Besetzung der beiden Hauptpartien ablesen lässt. Man kann sie mit Sopran und Tenor besetzen, oder - wie hier - mit Mezzo und Bariton. Magdalena Koená singt die Mélisande, Christian Gerhaher den Pelléas. Gerhaher arbeitet mit feinsten Mitteln, die französische Kunst der "Mélodie" fügt sich bei ihm zu einer Einheit aus Sprache und Klang. Klar, Gerhaher ist ein erfahrener Liedsänger, und das teilt er mit den anderen Protagonisten: Ob Franz-Josef Selig als der fast blinde König Arkel, ob Bernarda Fink als Pelléas' Mutter Geneviève, der großartige Gerald Finley als dessen Stiefbruder Golaud oder eben Magdalena Koená als Mélisande.

Gemessen an der Bedeutung dieses Werkes gibt es eher wenige Einspielungen von "Pelléas et Mélisande". Diese Diskografie ist nun um eine sehr differenzierte Aufnahme reicher.

Hector Berlioz, "Les Troyes"; Spyres, DiDonato, Orchestre philharmonique de Strasbourg, John Nelson; Warner (4 CDs) Claude Debussy, "Pelléas et Mélisande"; Koená, Gerhaher, Finley u.a. LSO, Simon Rattle; LSO live (3 CDs)

(RP)
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