Buchkritik Der wiederentdeckte Roman

Düsseldorf · Im Heine-Institut stießen Wissenschaftler auf das Manuskript eines Romans von Ingrid Bachér von 1965.

 Ingrid Bachér während einer Tagung der Gruppe 47 in Berlin, 1965.

Ingrid Bachér während einer Tagung der Gruppe 47 in Berlin, 1965.

Foto: Renate von Mangoldt

Kaum zu glauben ist das. Dass die Autorin ein fertiges Roman-Manuskript – wenn auch ein ziemlich altes – einfach so vergessen hatte. Bis es vor zwei Jahren dann Düsseldorfer Literaturwissenschaftler im Archiv des Heinrich-Heine-Instituts entdeckten. Dort hatte Ingrid Bachér ihren Vorlass gegeben, Briefe, Skripte, Fotos – und darunter eben auch den Roman. 1965 war der entstanden.

Das Buch ist auch ohne seine Entstehungszeit wichtig, spannend und gut lesbar. Aber erst in ihrem Zeitumfeld, in dem sie entstand,  wird die Geschichte brisant. Denn gerade einmal zwei Jahrzehnte ist es her, da der Zweite Weltkrieg endete und Deutschland in einem auch moralischen Trümmerhaufen hinterlassen hatte. Der erste Auschwitz-Prozess tagte, und besonders die jungen Menschen empörten sich über die milden Urteile damals.

In diese Zeit also fällt der Roman „Robert oder das Ausweichen in Falschmeldungen“ – die Geschichte des jungen Journalisten, der Nachrichten erfindet, um sich eine eigene, andere, vielleicht auch bessere Wirklichkeit zu erschaffen; sein letztes Refugium von Freiheit möglicherweise. Dann wird der Wohnungsnachbar der Familie ermordet, ein früherer Freund seines Vaters. Und sofort stellt Robert Fragen: Welche Schuld trägt der Vater? Und war er möglicherweise sogar der Mörder, der mit seiner Tat Vergangenes auslöschen wollte? Es gab während des Krieges nämlich einen Vorfall im damaligen Wilsbacher Haus der Familie. Ein Deserteur hatte sich in der Scheune versteckt und Robert hatte ihn entdeckt. Der Soldat war vom Vater schließlich gestellt, weggeführt worden.

Es sind diese Fragen, die Robert quälen und die zu formulieren ihm dennoch so schwer fallen. Eine sprachlose Generation der Jungen trifft auf eine schweigende Generation der Alten. Selbst die Familie hat ihren Platz als Ort der Geborgenheit, des Vertrauens verloren. Robert fühlt, „wie sie alle schon mit der Arbeit des Vergessens begannen. Sie würden sich bemühen, gedankenlos zu sein“, heißt es in dem Roman.

Dass Krieg und Kriegsschuld tiefe Spuren hinterlassen haben, klingt heute wie eine Selbstverständlichkeit. 1965 aber war es das plötzliche Erschrecken darüber, dass das Leben im wilden Wiederaufbau-Eifer doch nicht so unproblematisch weitergehen konnte.

Ingrid Bachér, 1930 in Rostock geboren und seit 1958 Mitglied der Gruppe 47, hat diese schreiende Sprachlosigkeit sehr früh registriert und mit literarischen Mitteln zu erklären versucht. Ein Jahr vor dem jetzt entdecken und publizierten Buch veröffentlichte die Düsseldorfer Autorin 1964 den Roman „Ich und Ich“. Die Geschichte zweier Frauen irgendwo an der norddeutschen Küste: Ruth, die in Kriegszeiten blieb, Lena, die fliehen musste und nun zurückkehrt. Die einstigen Kinder der Verfolger und Verfolgten finden dennoch keine Sprache füreinander. Befangen bleiben sie, gehemmt, unfähig über das zu reden, was geschehen ist.

Beide Bücher sind unabhängige Geschichten; jedes existiert für sich. Doch beide stehen in einem Zusammenhang: Sie sind literarische Dokumente einer Zeit, in der „Abendfröhlichkeitsgesellschaften“ nicht mehr vertuschen können, was unter der Oberfläche schlummert. Ein paar Jahre später sollte Vieles aufbrechen und mit den Studentenprotesten zur Sprache kommen. Ingrid Bachér beschreibt eine Art Zwischenzeit, ihre Geschichte spielt wie unter einer Käseglocke. Und mit Berlin wählte sie eine geteilte Stadt zum Schauplatz, die wie eine Insel anmutet.

Dazu passt die skurrile Publikationsgeschichte. Denn eigentlich sollte der jetzt ausgegrabene Roman 1966 im Insel-Verlag erscheinen. Der große Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld hatte das Manuskript gelesen; der Entwurf für den Umschlag lag sogar schon auf seinem Arbeitstisch, wie sich Ingrid Bachér heute wieder erinnert. Doch dann setzte ein Stimmungswandel bei ihm ein: Siegfried Unseld lehnte das Buch schlichtweg ab, ohne große Begründung. „Vielleicht passte ihm das Thema damals nicht“, so Ingrid Bachér, die das Manuskript wegpackte – und niemandem zeigte.

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