Flucht in den Wald

Drama "Die Summe meiner einzelnen Teile" von Hans Weingartner

Ein Mann rutscht ab. Martin ist Mathematiker, ein sensibler Typ, der von seinem Vater drangsaliert wurde. Als Analyst hatte er einen guten Job, doch irgendwann sind die Zahlen in seinem Kopf zum Dickicht geworden. Einen Psychiatrie-Aufenthalt hat er hinter sich, seine Stelle bekam er nicht zurück, seine Freundin auch nicht. Bald kann Martin die Übergangswohnung nicht mehr bezahlen, betäubt sein leistungsstarkes Gehirn mit Wodka.

Lange denkt man, dass Hans Weingartner mit "Die Summer meiner einzelnen Teile" die bekannte Geschichte eines sozialen Abstiegs erzählt, ein trauriges Aussteigerdrama von einem, der unfreiwillig an den Rand der Gesellschaft gerät, erst Obdachloser wird, dann in den Wald zieht, ein Wilder am Rande der Großstadt. Das ist geschickt erzählt mit vielen Auslassungen, der Zuschauer muss sich die Vorgeschichte selbst zusammenreimen. Doch dass Martin ein mathematisches Genie ist, wirkt aufgesetzt. Als sei eine so drastische Geschichte allein nicht erzählenswert, als müsse auf Hollywoods Spuren die Hauptfigur in einem Drama über psychische Erkrankung immer hochbegabt sein, um Anteil zu wecken.

Doch irgendwann wird es komplizierter. Weingartner erzählt gar keine herkömmliche Abstiegsgeschichte. Führt auch nicht nur in die beängstigenden Vorstellungswelten eines psychisch kranken Menschen wie in seinem Film "Das weiße Rauschen". Diesmal lagert er sehr gekonnt unterschiedliche Genre- und Motivebenen übereinander: Als Obdachloser begegnet Martin einem kleinen Jungen, der aus Russland stammt und seine drogensüchtige Mutter verloren hat. Martin nimmt den Kleinen mit in den Wald – wie Goethes Harfner und Mignon streifen der verwirrte Ex-Psychiatriepatient und das Kind aus der Fremde durch die Natur, bauen sich ein Haus aus Müll, versuchen von den Ausscheidungen der Zivilisation zu leben.

"Die Summe meiner einzelnen Teile" ist also ein kluges Spiel mit literarischen Motiven, dazu ein politischer Film, der wie schon Weingartners "Die fetten Jahre sind vorbei" Kritik am kapitalistischen System in eine spannende Geschichte verwandelt. Das funktioniert nicht immer. Da trägt Martin etwa einer Zahnarzthelferin einen Liebesbrief hinterher, den er zufällig im Müll fand, und beglückt sie mit subversivem Zurück-Zur-Natur-Gerede. Auf einmal wirkt da alles konstruiert, muss der Zuschauer zu viele Unwahrscheinlichkeiten schlucken. Doch später gelingt Weingartner eine große Wendung des Stoffes, die aus der Geschichte eines gescheiterten Superhirns ein poetisches, gesellschaftskritisches Psychodrama macht. Ein Film, der von der Macht der Fantasie handelt und von der Wucht des Wahns. Und der zeigt, dass sensible Menschen in der Welt, die wir als normal empfinden wollen, vor die Hunde gehen. Und weil Weingartner das alles in einer aufwendig konstruierten Geschichte erzählt, endet er nicht im Sozialkitsch. Er erzählt von einem Menschen, den die Verhältnisse in die totale Einsamkeit treiben. Und wir verstehen warum.

(RP)
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