Film-Drama „Mehr denn je“ Was tun, wenn man nichts mehr machen kann?

Hélène ist 33 und wird bald sterben. Ihr Umfeld weiß nicht, wie es sich der Todkranken gegenüber verhalten soll. Eine Reise nach Norwegen soll Erleichterung bringen.

 Vicky Krieps als Helene und Gaspard Ulliel als Mathieu in „Mehr denn je“.

Vicky Krieps als Helene und Gaspard Ulliel als Mathieu in „Mehr denn je“.

Foto: dpa/-

Sie wollten sie alle noch einmal sehen. Aber als Hélène (Vicky Krieps) bei der Dinner-Party auftaucht, wissen die Freundinnen und Freunde nicht, wie sie sich verhalten sollen. Da sind die Blicke, die besorgt auf ihr liegen, aber den direkten Augenkontakt vermeiden. Die fröhlichen Gespräche, die versiegen, wenn sie die Küche betritt. Die bemühten Fragen und aufmunternd gemeinten Bemerkungen, die völlig daneben greifen. Und die Lügen, wenn eine Freundin behauptet, keinen Wein trinken zu wollen, weil sie noch fahren muss, obwohl der eigentliche Grund für die Abstinenz ihre Schwangerschaft ist.

Alle wissen: Hélène wird nie schwanger werden. Die 33-jährige Architektin leidet an einer unheilbaren Lungenkrankheit und wird wahrscheinlich bald sterben. „Hört endlich auf, so mit mir umzugehen“, sagt Hélène schließlich. „Niemand weiß, wie er sich verhalten soll in einer Situation wie dieser. Aber ich weiß es am allerwenigsten.“ Was sie tun sollen, sie einfach vergessen, fragt die Freundin. „Vielleicht einfach nichts“, antwortet Hélène beim Hinausgehen.

Aber auch, wenn man nichts mehr machen kann, ist Nichtstun in einer solchen Situation kaum möglich. Nicht für Hélène, die nach einem Umgang mit der tödlichen Krankheit sucht. Nicht für ihren Lebensgefährten Mathieu (Gaspard Ulliel), der sich rührend um sie kümmern will und sich an jeden Halm der Hoffnung klammert. Die beiden verbindet eine innige Liebe, die mit dem Verlust ihrer Zukunft jedoch an die Grenzen gerät. „Was tun, wenn man stirbt“, gibt Hélène in die Suchmaschine ein und landet im Blog eines gewissen „Mister“ in Norwegen, der in Fotos und Bildern von seinem Umgang mit dem eigenen Krebsleiden erzählt. Sie beginnt, mit dem Unbekannten zu chatten und zu telefonieren. „Die Lebenden können die Sterbenden nicht verstehen“, sagt er zu ihr – ein Satz, dessen Tragweite Hélène schließlich zu einer einsamen Entscheidung bewegt. Allein reist sie nach Norwegen, um den Unbekannten zu besuchen und in der Stille der Fjörd-Landschaft sich selbst zu spüren.

In ihrem neuen Film „Mehr denn je“ porträtiert Emily Atef („3 Tage in Quiberon“) eine junge Frau, die im Angesicht des herannahenden Todes ihr Leben noch einmal neu bestimmt. Mit großer emotionaler Aufrichtigkeit behandelt der Film sein Thema, das gerade in unserer westlichen Gesellschaft stark tabuisiert wird. Ganz ohne stereotype Polarisierungen zeigt „Mehr denn je“ anhand einer Liebesbeziehung die grundverschiedenen Wahrnehmungswelten zwischen den Sterbenden, die sich mit der Gewissheit der eigenen Endlichkeit arrangieren müssen, und den Lebenden, die sie nicht loslassen können. Hélène findet in der Natur und dem hellen Licht des skandinavischen Sommers zu einer inneren Ruhe, Selbstbestimmtheit und einem heilsamen Egoismus, mit dem die Sterbende sich von den Ansprüchen der Lebenden frei macht. „Mehr denn je“ ist ein tief berührender und natürlich auch trauriger Film, aber eben auch eine Emanzipationsgeschichte, die auf intime Weise ein zentrales Thema unserer Gesellschaft verhandelt.

Die Frage, wie wir würdevoll aus dem Leben gehen wollen, ist angesichts der medizinischen Doktrin unbedingter Lebensverlängerung von großer Bedeutung. „Mehr denn je“ macht deutlich, dass dies einzig die Entscheidung der Betroffenen ist und das eigentliche Geschenk der Liebe in der Akzeptanz der Selbstbestimmung liegt. All dies (und noch viel mehr) verhandelt Atef Lichtjahre entfernt von aller Thesenhaftigkeit, indem sie die widersprüchlichen Gedanken und Gefühle ihrer Hauptfigur mit seismographischer Sensibilität abtastet.

Und für diese Herangehensweise hätte sie keine bessere Hauptdarstellerin finden können als Vicky Krieps, die gerade erst in der Rolle der Königin Sissi in „Corsage“ auf der Leinwand zu sehen war. Krieps ist eine Schauspielerin, die ihre Figuren mit einer ungeheuren emotionalen Durchlässigkeit verkörpert und gleichzeitig stets deren Integrität bewahrt. Ihre Hélène hat nichts mit dem Klischee der Schmerzensfrau zu tun. Sie entkommt der Verzweiflung, indem sie lernt ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen neu zu vertrauen. Welche Kraft in dieser Selbstakzeptanz liegt – auch das spielt Krieps auf ihre ganze eigene, stille, mitreißende Weise. Dabei ist auch das Vertrauen, das sich Regisseurin und Hauptdarstellerin in ihrer gemeinsamen Arbeit entgegengebracht haben, in jeder Filmsekunde spürbar.

Hinzu kommen eine geradezu traumsichere, visuelle Gestaltung, die Natur und Mensch ganz unpathetisch miteinander in Kontakt bringt, sowie ein kristallklares Sounddesign, das die unbedingte Aufmerksamkeit für die Figur effizient unterstreicht.

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