Filmbiografie „Emily“ Leidenschaft in sturmzerzauster Welt

„Emily“ ist das Porträt einer Frau, die im Hochmoor Yorkshires zur Schriftstellerin wird. Regisseurin Frances O`Connor erzählt das Leben von Emily Brontë („Sturmhöhe“) auf neuartige Weise. Das Publikum hört ihr Herz schlagen.

 Emma Mackey aus der Serie „Sex Education“ spielt die Titelrolle.

Emma Mackey aus der Serie „Sex Education“ spielt die Titelrolle.

Foto: verleih/Michael Wharley

Einmal wartet Emily in einer Hütte am Rande des Moores auf William. Sie sitzt mit dem Rücken zum Fenster, man sieht ihr Gesicht in Nahaufnahme, man spürt ihre Nervosität und Vorfreude, und man ist selbst ganz angefasst von der Situation. Zweimal dreht sich Emily um, jedes Mal ist William ein Stückchen weiter durch das hohe Gras an den verabredeten Ort herangekommen, und schließlich steht er im Raum. Kurze Stille. Dann Überwältigung.

„Emily“ heißt dieser hinreißende Film, und er erzählt das Leben der Schriftstellerin Emily Brontë, die 1847 den Roman „Sturmhöhe“ veröffentlicht hat. Filme über das viktorianische Zeitalter sind oft überbordende Ausstattungsorgien oder brutale Modernisierungen oder sehr langweilig. Dieser Film ist eine Ausnahme, er ist das beste, was Emily Brontë passieren kann, weil man nun ihr Herz schlagen hört und ihren Atem spürt, und man mag gar nicht glauben, dass das tatsächlich ein Debüt ist.

Die Regisseurin und Drehbuchautorin Frances O’Connor wurde in den späten 1990er-Jahren als Schauspielerin bekannt, sie tauchte damals schon tief ins 19. Jahrhundert ab. Für die BBC übernahm sie die Titelrolle in einer Adaption von „Madame Bovary“, und in der Verfilmung von Jane Austens „Mansfield Park“ war sie die Fanny Price. Sie spielte lange mit dem Gedanken, sich dem Leben und Werk Emily Brontës zu widmen. Sie las „Sturmhöhe“ mit 15 auf den langen Busfahrten zur Schule im australischen Nirgendwo, wo sie aufgewachsen ist. Der Roman spiegele ihre Umgebung, meinte sie damals. Den Wind, das Unheimliche, das Ausgeliefertsein an die Elemente und das Übernatürliche kannte sie gut.

Man weiß nicht viel über Emily Brontë, die Berichte über ihr Leben sind gefiltert durch die Brille ihrer Schwester Charlotte, die später mit dem Roman „Jane Eyre“ berühmt wurde. O’Connor entwirft also eine biografische Erzählung, die sich so zugetragen haben könnte. Und ihr gelingt es, eine Frau in unsere Gegenwart zu holen, ohne sie aus ihrem Zeitkontext zu lösen. Die als Sonderling belächelte und wegen ihrer Stimmungsschwankungen als schwierig geltende Emily Brontë tritt als emotional versehrte Person vor uns hin. Der frühe Tod der Mutter lastet auf ihr, das Leben im Pfarrhaus in der Einsamkeit Yorkshires, der Kampf um die Aufmerksamkeit des strengen Vaters.

Emma Mackey in der Titelrolle ist großartig. Man kennt sie als Rebellin aus „Sex Education“, zuletzt sah man sie in „Eiffel in Love“ und „Tod auf dem Nil“ im Kino, und sie tariert Wildheit und Feinsinn sehr gut aus. Eine Handkamera folgt ihr, die Bilder wackeln oft, so nahe kam man Emily Brontë noch nie. Und es gibt umwerfende Szenen, von denen vor allem jene herausragen, in denen die Überwältigung der Heldin nachvollziehbar gemacht wird, indem die Umgebungsgeräusche ausgeblendet werden und sich laute Streichermusik über die wie unter Wasser gefilmten Bilder legt.

Emily Brontë lebt mit ihren Schwestern Charlotte und Anne und dem Bruder Branwell in sturmzerzauster Welt. Sie erzählen einander Geschichten, sie schreiben Gedichte und malen, und als ein junger Vikar kommt, um den Vater zu unterstützen, münden zufällige Gesten und gelegentliche Blicke zwischen Emily und William in Leidenschaft. Man denkt ja, man habe so etwas schon 1000 Mal gesehen, das stimmt auch, aber nicht in der Art, wie Frances O’Connor es inszeniert.

Das Sichtbarmachen der Empfindungen gerät nie theatralisch. Nichts ist zu dick aufgetragen. Die Regisseurin deutet bloß an, die patriarchalen Strukturen etwa werden deutlich, wenn ein Ausflug geplant ist. Die Frauen vermuten, dass es gleich regnen wird, die Männer sagen aber, „nein, es wird nicht regnen“, also bricht man auf, und es regnet natürlich doch, und zwar stark. Oder die Szene, in der William sich plötzlich abweisend verhält, Emily nicht mehr ansieht, und die Frau nicht weiß, wie sie mit ihm reden soll. Man fühlt die Einsamkeit, die Verlorenheit, die Schutzlosigkeit.

„Emily“ macht seine Hauptfigur lebendig, anstatt die sie voller Respekt aus der Ferne zu betrachten. Natürlich spielt auch hier die Landschaft eine wichtige Rolle. Aber nicht als schwärmerischer Reiseprospekt oder pittoreskes Postkartenmotiv. Die Figuren fügen sich in die Umgebung, die Farben ihrer Kleider setzen sich kaum ab vom Grün und Braun der Gräser und Hügel. Mensch und Natur sind eins. Es regnet immerzu, ein Rauschen und Prasseln liegen unter großen Teilen der Handlung; das Wasser wäscht vieles weg, löscht aus und hält in Gang.

Erst am Ende der Handlung sieht man Emily Brontë schreiben. Ihr Werk entstand aus den über Jahre angehäuften Erfahrungen. Sie veröffentlichte den Roman dann allerdings nicht unter ihrem Namen, wie der Film suggeriert, sondern den Konventionen der Zeit verpflichtet unter dem männlichen Pseudonym Ellis Bell.

Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal erinnert sich in ihrem Buch „Über Emily Brontë“ an ihre erste Lektüre der „Sturmhöhe“. Es sei ein „synästhetisches Ganzkörpererlebnis“ gewesen. Über diesen Film lässt sich dasselbe sagen.

Emily, Großbritannien/USA 2022 – Regie: Frances O'Connor; mit Emma Mackey, Oliver Jackson-Cohen, Adrian Dunbar, Fionn Whitehead, Alexandra Dowling; 130 Minuten

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