Wenn die Erinnerung trügt

Ein Auschwitz-Überlebender macht sich in den USA auf einen privaten Rachefeldzug, um den aufzuspüren, der für den Tod seiner Familie verantwortlich ist. Auf seine Erinnerung aber kann sich der demente Mann nicht mehr verlassen.

Die Erinnerung ist eine trügerische Begleiterin. Sie schönt, idealisiert, selektiert. Und so manches Mal hat das Erinnerte nur noch wenig mit dem tatsächlich Geschehenen zu tun. Die einen wollen vergessen, die anderen können nicht vergessen. Die Erinnerung beherrscht sie. Wie in "Remember", Atom Egoyans neuem Drama über das Erinnern, das Vergessen und Verdrängen.

Der an den Rollstuhl gefesselte Max (Martin Landau) schickt seinen alten Freund und Altersheim-Mitbewohner Zev (Christopher Plummer) auf eine Reise durch die USA, um jenen Auschwitz-Aufseher zu suchen, der einst für den Tod ihrer Familien verantwortlich war. Er soll die Identität eines Juden angenommen haben. Gerade erst ist Zevs Frau Ruth gestorben, und er beginnt zunehmend zu vergessen. Doch Max hat alles bis ins kleinste Detail vorbereitet - die Route ausgearbeitet, Adressen recherchiert und nötiges Geld deponiert.

So macht sich der greisenhafte Max auf eine Reise quer durch die USA und trifft tatsächlich auf eine ganze Reihe von ehemaligen Nazis und bekennenden Antisemiten, die alle Rudy Kurlander heißen. Da scheint er immer wieder so nah am Ziel, doch schon beim ersten Rudy (Bruno Ganz) stellt sich schnell heraus, dass dieser zwar für die Nazis im Einsatz war, dies jedoch unter Rommel in Nordafrika. Ein anderer im Krankenbett liegende Greis zeigt Max seine Auschwitz-Nummer, und beide liegen sich weinend in den Armen.

Regisseur Egoyan setzt auf starke Bilder, die nur eine Assoziation zulassen. Schon bei der Trauerfeier für Zevs Frau lässt er die Kamera lange auf dem Judenstern verweilen, den Zev um den Hals trägt. Zuvor ist der alte Herr aus seinem heimeligen, mit schweren Möbeln und Strukturtapete ausgestatteten Zimmer auf den sterilen, nüchtern weißen Flur des Altenheims getreten. Später wird der Blick auf den Duschkopf gerichtet - die Assoziation mit den Gaskammern wirkt da schon arg plump.

Am größten aber wird das Unbehagen, als Zev den dritten Rudy aufsucht. Der ist zwar gestorben, doch dessen Sohn, ein geschiedener, versoffener State-Trooper, setzt dessen Nazi-Verherrlichung und Judenhass fort. Ein ganzes Zimmer dient als Schauraum der entsprechenden Devotionalien - Hakenkreuz-Fahne, Erstausgabe von "Mein Kampf" und ein deutscher Schäferhund names Eva inklusive.

Anfangs freundlich, doch plötzlich angeekelt von dem alten Juden, hetzt er den Hund auf Zev. Zitternd und völlig verstört macht dieser sich in die Hose und erschießt wenig später erst den Hund, dann den Mann, um dann seinen und Max' persönlichen Rachefeldzug zum vierten Rudy (Jürgen Prochnow) fortzusetzen. Der Brief mit den Anweisungen von Max leitet ihn, bei vielem anderen macht sein Gedächtnis oft nicht mehr mit.

Zum Schluss steuert alles auf ein drastisches, für manche Zuschauer durchaus erwartbares Ende hin - das jedoch nichts von seinem Schrecken einbüßt. Man mag zwiegespalten sein, ob die Taten im Dritten Reich als Projektionsfläche dienen dürfen für den Umgang mit der eigenen Geschichte, der Erinnerung und der schwindenden Erinnerungen eines zunehmend dementen Mannes. Und doch ist Egoyan ein beklemmendes, thrillerähnliches Drama gelungen, das einen mit einem schweren Kloß im Magen zurücklässt - aus mehreren Gründen.

"Remember", Kanada/Deutschland 2015, 94 Minuten, Regie: Atom Egoyan, mit: Christopher Plummer, Martin Landau, Bruno Ganz, Jürgen Prochnow, Dean Norris.

(dpa)
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