Stilbildender Kino-Jahrgang Das beste Jahr der Filmgeschichte

Düsseldorf · 1999 kamen so viele wegweisende Produktionen ins Kino wie nie. 20 Jahre später erinnert man sich voller Wehmut daran.

 Blair Witch Project

Blair Witch Project

Foto: picture alliance / United Archiv/United Archives / IFTN

Superlative soll man sparsam verwenden, deshalb dieses vorweg: 1999 war das beste Jahr in der Geschichte des Kinos und das letzte große zudem. Es gab so viele wegweisende, überraschende und wagemutige Produktionen wie seither nie wieder. Als Beweis seien drei Titel genannt: „The Matrix“, „Fight Club“, „The Green Mile“. Eigentlich sollte man noch „The Sixth Sense“, „Being John Malkovich“ und „Magnolia“ aufführen. Aber dann müsste man gerechtigkeitshalber auch „American Beauty“, „Eyes Wide Shut“ und „The Virgin Suicides“ erwähnen. Man sieht schon, man käme in den Wald, wenn man sich um Vollständigkeit bemühte. Apropos Wald: „Blair Witch Project“ kam ebenfalls 1999 ins Kino.

Dass dieser Jahrgang 20 Jahre später noch fasziniert, liegt daran, dass das Mainstream-Kino derzeit ziemlich langweilig ist. Viele Top-Produktionen sind Weiterführungen von Superhelden-Sagas, gehen auf Comic-Vorlagen zurück oder erzählen erfolgreiche Reihen fort. Das Kino leidet an Ideen-Armut. Neun der zehn erfolgreichsten Filme des Jahres 2018 waren Fortsetzungen oder Comic-Adaptionen, manche beides. Neun der zehn erfolgreichsten Filme des Jahres 1999 basierten hingegen auf Original-Drehbüchern. Filmemacher brachen damals mit Regeln und Traditionen des Kinos, sie wirkten wie befreit, erfanden neue Narrative und Effekte und adressierten ihre Erfindungen an die Zeitgenossen.

Ein Grund für die kreative Explosion mag die handlichere Ausrüstung gewesen sein. Kameras waren auf einmal erschwinglich, durch das digitale Editieren ließen sich Visionen rascher verwirklichen. Ein Beispiel ist „Blair Witch Project“. Der Film tarnt sich als Dokumentation über das mysteriöse Verschwinden dreier Studenten in den Wäldern Marylands. Die Kamera wackelt, die Wirkung der vorgeblich von Amateuren aufgenommenen Bilder ist enorm. 60.000 Dollar kostete das Werk, es spielte 248 Millionen Dollar ein. Und das „Found-Footage-Prinzip“ begründete ein Genre; Produktionen im ähnlichen Stil sind „Paranormal Activity“ (2007) und „Cloverfield“ (2008).

Überhaupt wirken technische Errungenschaften und Themen der Klasse von 1999 nach. „Bullet Time“ nennt man den Spezialeffekt, der in „The Matrix“ perfektioniert wurde und bis heute zu erleben ist – als grundlegendes Element etwa in „Inception“ (2010): Ein Gegenstand wie eine Pistolenkugel friert ein, die Kamera fährt um ihn herum und filmt ihn in aller Ruhe. „The Sixth Sense“, der wirtschaftlich zweiterfolgreichste Film des Jahres 1999, zeigte, wie man kurz vor Schluss die Handlung eines Films auf den Kopf stellt. Sein Regisseur M. Night Shyamalan wurde im Magazin „Newsweek“ sogleich als „The Next Spielberg“ geadelt. Und „American Beauty“ lehrte den Zuschauer, dass die Schönheit in der Gegenwart ausgerechnet dort blüht, wo man sie am wenigsten vermutet. Man erinnere sich nur an das poetische Bild der Plastiktüte im Wind.

1999 debütierten Regisseure wie Spike Jonze und Sofia Coppola. Autorenfilm-Größen wie Wes Anderson, Alexander Payne und die Wachowski-Geschwister erlebten ihren Durchbruch, Altmeister wie Terrence Malick und Stanley Kubrick meldeten sich nach langer Abwesenheit zurück. Angelina Jolie („Durchgeknallt“) und Hilary Swank („Boys Don’t Cry“) kamen zu frühen Oscar-Ehren. Heath Ledger hatte in „10 Dinge, die ich an dir hasse“ seinen ersten prominenten Auftritt. Reese Witherspoon („Eiskalte Engel“) und Russell Crowe („Insider“) wurden zu Weltstars. Und Sam Mendes gewann mit seinem Regie-Debüt „American Beauty“ fünf Oscars.

Möglicherweise setzte die Furcht vor dem Jahrtausendwechsel eine besondere Energie frei. Der „Millenium Bug“ stand wie eine Bedrohung am Himmel: Würden die Computer nach Neujahr noch arbeiten, würde es überhaupt Strom geben? Eine Grundangst durchzog viele der besten Drehbücher. Tyler Durden, die von Brad Pitt gespielte Hauptfigur aus David Finchers „Fight Club“ etwa, ist ein Kommentar auf die Krise des Machismo. Lieber irgendwas fühlen als stumpf sein, lautet sein Motto. Im Grunde wusste er damals schon, dass Männlichkeit keine Zukunft hat. Heute wird der Stoff wegen seiner Aktualität für Theaterbühnen adaptiert.

Der US-Journalist Brian Raftery weist in seinem Buch „Best. Movie. Year. Ever“ nach, wie stark 1999 das Kino der Gegenwart prägte. Vor allem der Pessimismus wirke nach: Apokalypse als Dauerzustand. Die Menschheit sei zu materialistisch orientiert und moralisch zu schwach, um überleben zu können. Helden waren keine Gewinner und Vorbilder mehr. Sie scheiterten, starben oder verschwanden einfach und entzogen sich so. Als Gegengift zur Untergangsgewissheit half nurmehr Zynismus.

Warum gibt es heute keine Welle neuartigen Erzählens, warum überschwemmt keine Nouvelle Vague die Leinwände? Sam Mendes drehte zuletzt James-Bond-Filme, M. Night Shyamalan verzettelt sich in undurchdringlichem Indie-Trash, und David Fincher verfilmt schwedische Krimis. Dabei sehnt man sich nach Erzählungen aus der Gegenwart. Kapitalismus, Despotismus, Umwelt-Katastrophen dienen dem Kino jedoch zumeist nur als Hintergrund für eskapistische Fantasien über Welten fernab unserer Realität. Vielleicht ist das Kino einfach nicht mehr der richtige Ort, an dem Unmittelbares verhandelt würde. Sein Bedeutungsverlust zeichnete sich 1999 bereits ab: Die erste Folge der „Sopranos“ wurde im Fernsehen ausgestrahlt, damit begann der Siegeszug des Formats Drama-Serie, das durch Netflix nun allgegenwärtig ist.

Visionär ist so betrachtet auch das Zitat aus „Magnolia“: „Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.“

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