„The Father“ Anthony Hopkins auf dem Höhepunkt seiner Kunst

„The Father“ inszeniert eine Demenz-Erkrankung so, dass das Publikum mit den Augen des Patienten auf die Welt blickt. Anthony Hopkins bekam für seine Rolle in diesem berührenden Psychothriller den Oscar.

 Die Welt vor dem Fenster ist so weit entfernt wie ein fremdes Land: Anthony Hopkins in „The Father“.

Die Welt vor dem Fenster ist so weit entfernt wie ein fremdes Land: Anthony Hopkins in „The Father“.

Foto: dpa/Sean Gleason

Dieser Film ist toll, das sei schon mal verraten, und er bleibt nicht nur wegen der Geschichte im Gedächtnis, die er erzählt. Auch nicht wegen der cleveren Art und Weise, wie er sein Thema variiert. Zum Ereignis wird „The Father“ wegen seines Hauptdarstellers. Der 83 Jahre alte Anthony Hopkins gibt eine umwerfende Vorstellung, er macht aus dem Theaterstück, das die Vorlage für diese Produktion liefert, ein Königsdrama. Hopkins spielt etwas, das man kaum spielen kann, weil es so schwierig darzustellen ist: einen Mann, der verschwindet. Die Rolle brachte ihm seinen zweiten Oscar ein. Den ersten hatte er 1992 für seine Darstellung des Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“ (1992) gewonnen.

Es geht um Demenz in „The Father“, aber eben nicht in der klassischen Form, die zumeist einen kranken Menschen in den Mittelpunkt rückt und das Mitleid und die Ratlosigkeit der Angehörigen dokumentiert. Der französische Regisseur und Drehbuchautor Florian Zeller fächert das Thema als Psychothriller auf, als Mystery- und bisweilen gar als Horrorfilm. Der Kunstgriff bewirkt, dass das Publikum die Welt mit den Augen des Kranken sieht, dass es sie aus seiner Wahrnehmung heraus betrachtet. Und das ist ein bewegendes Erlebnis.

In der ersten Szene sitzt der von Anthony Hopkins gespielte Anthony in einem Sessel in seinem mit Kunst, edlen Möbeln und P. D. James-Romanen geschmückten Londoner Upperclass-Apartment. Er hört Musik über Kopfhörer, Henry Purcells „King Arthur,” und er ist so absorbiert von dieser Oper, dass er nicht bemerkt, was um ihn herum passiert. Seine Tochter Anne (Olivia Colman) holt ihn aus der Absence, sie sorgt für ihn, und umso härter trifft ihn ihre Neuigkeit: Sie ziehe nach Paris, sie habe sich dort verliebt. Aber sie versuche, an den Wochenenden zu kommen.

Bis hierhin ist noch alles gut und logisch. Doch dann trifft Anthony einen Fremden in seinem Apartment. Er stellt ihn zur Rede, und der Mann sagt, er sei doch der Ehemann von Anthonys Tochter. Aber ist Anne nicht geschieden, und will sie nicht nach Paris? Als Anthony den Kerl aus seinem Apartment werfen will, behauptet der, das sei ja gar nicht Anthonys, sondern seine Wohnung. Er und Anne hätten Anthony zu sich geholt. Zum Glück kommt Anne hinzu, nun könnte die Sache geklärt werden. Aber sie sieht plötzlich anders aus. Anne wird im Film nämlich von zwei Schauspielerinnen gespielt, ihr Mann ebenfalls, und gedreht wurde in zwei Wohnungen. „Ich weiß nicht, was hier vor sich geht“, sagt der völlig irritierte Anthony.

 Olivia Colman als Anne, Anthony Hopkins als Anthony.

Olivia Colman als Anne, Anthony Hopkins als Anthony.

Foto: dpa/Sean Gleason

Florian Zeller gilt in Frankreich als Dramatiker, der ein ebenso gutes Gespür für die Themen der Gegenwart hat wie seine Kollegin Yasmina Reza. „The Father“ war als Bühnenstück ein Hit, und der als Kammerspiel inszenierte Film potenziert die Intensität. Klaustrophobisch fühlt sich das Ein- und Abgeschlossensein Anthonys an. Ebenso wie er weiß das Publikum nie, was nun eigentlich die Wahrheit ist, wie die Dinge stehen und was real und was Einbildung ist. Die Wände der Wohnung scheinen auf seinen Bewohner zuzuwachsen, die Szenerie wird immer dunkler. Manchmal blickt Anthony auf die Straße, der Platz vor dem Fenster ist ganz nah und dennoch unerreichbar wie ein fernes Land. Einmal spielt dort ein Schuljunge, ein früheres Ich, das bald hinter dem Vorhang verschwindet.

Olivia Colman, die die meiste Zeit Anthonys Tochter spielt, bringt Wärme in die Handlung, doch sie versüßt sie nicht. Sie legt Spuren aus, und wer ihnen folgt, erkennt, wie stark der Gesundheitszustand des Vaters und die Ungewissheit, wie es mit ihm weitergeht, auf ihr Leben wirken. Abgründe lauern am Rand der Handlung. Ehekrise. Fehlgegangene Versuche, eine Betreuerin dauerhaft zu binden. Was ist mit der verstorbenen Schwester? Und wo ist eigentlich die Mutter?

Hopkins bietet in jeder Szene seine ganze Kunst auf, aber er überdreht nicht. Er regiert den Film, ohne ihn sich Untertan zu machen. Manchmal hält er eine Hand vor sein Gesicht, das ist eine seiner klassischen Gesten, die man oft bei ihm sieht. Sie drückt Scham aus oder den Wunsch, kurz für sich zu sein. Einmal steckt er ein Taschentuch in die Brusttasche des Bademantels und flirtet mit der Frau, die sich um den Job als Betreuerin bewirbt. Im nächsten Moment ekelt er sie mit einer Eiseskälte hinaus, die einem die Härchen auf den Unterarmen aufstellt. Und dann ist er so zerstört und schutzlos wie nur jemand sein kann, der seine Identität zu verlieren droht: „Wer bin ich?“, wispert er.

Bei den Oscars hatte monatelang Chadwick Boseman als sicherer Sieger ausgesehen. Der Schauspieler hatte kurz vor seinem frühen Krebstod eine beeindruckende Vorstellung in „Ma Rainey’s Black Bottom“ gegeben. In seiner Kategorie wurde der Preis bei der Gala im April denn auch als letztes vergeben. Man wollte offenbar den emotionalen Höhepunkt an den Schluss setzen. Völlig überraschend wurde dann aber der abwesende Anthony Hopkins als bester Hauptdarsteller gekürt.

Es ist eine verdiente Ehrung. Besonders stark sind in „The Father“ jene Szenen, in denen Hopkins alleine zu sehen ist. Man merkt seinem Anthony die Erschöpfung an, man spürt, wie viel Kraft es kostet, für die Angehörigen so zu tun, als sei man der Alte. Und wie bitter es sein muss, nicht zu wissen, ob man tatsächlich man selbst ist. Im Interview mit der „New York Times“ verriet Hopkins, er habe den Dreh immer wieder unterbrechen müssen, weil ihm schlagartig bewusst geworden sei, wie endlich auch sein eigenes Leben sei.

Es ist genau diese Erkenntnis, die „The Father“ zu einem aufwühlenden Film macht.

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