Leonard Bernsteins Musical neu verfilmt Steven Spielbergs „West Side Story“ tritt auf der Stelle

Düsseldorf · Der US-amerikanische Regisseur Steven Spielberg erfüllt sich einen Traum: Er bringt das Musical „West Side Story“ als Film heraus. Wir haben ihn gesehen – mit gemischten Gefühlen.

 Tanzszenen sind ein wichtiges Element in der „West Side Story“.

Tanzszenen sind ein wichtiges Element in der „West Side Story“.

Foto: dpa/Niko Tavernise

Daheim spielte die Mutter auf dem Klavier Schumann und Beethoven, Brahms und Chopin, der Vater und die Kinder saßen ringsum, den Klassikern galt ihre Liebe, und das Klima war ehrfürchtig. Auf dieser soliden Basis entwickelte der kleine Steven ein spezielles Hobby: Er sammelte Soundtracks von Filmen. Irgendwann besaß er auch die Musik der „West Side Story“, Robert Wises Film von 1961 mit Leonard Bernsteins Musik. Er liebte diese Platte und ahnte: Das hier ist heiliger Boden. Jetzt hat Steven Spielberg ihn persönlich betreten.

Das leitet zur entscheidenden Frage über: Braucht ein Film, den zehn Oscars in den Olymp der Kinokunst katapultiert haben, ein Remake?

Schwierig. Der Clou von Bernsteins Musicals (1957) und Wises Films ist ja die Menge an sozialem Sprengstoff, den die Musik auf wundersame Weise entschärft. Und das tödliche Liebesdrama in der Nachfolge von Romeo und Julia schüttet erst recht die Gräben zu, die der unversöhnliche Bandenkrieg zwischen den US-amerikanischen Jets und den puertoricanischen Sharks täglich neu aufriss.

Trotzdem, daraus hätte Spielberg eine moderne Saga machen können, in der etwa die Hautfarbe eine noch stärkere Rolle spielt. Er hätte uns ein versehrtes modernes New York vorführen können, eine digital aufgeheizte, innerlich verwundete Welt, verloren in Großstadtschluchten. Doch sein Film zeigt uns, wie sehr er noch von Wises Version berauscht ist. Irgendwann nach 25 Minuten fragt man sich, ob der Vorführer im Kino nicht aus Versehen den falschen Film abspielt – da fahren wirklich die bräsigen Ami-Schlitten von damals umher, protzigen Flundern gleich, rauschen die Petticoats, schnippen die Finger der coolen Jungs. Aber nein, es ist wirklich Spielberg, der wieder einmal die Nostalgie zu seinem Erkennungszeichen macht und das Alte nicht neu erfindet, sondern es mit fetter Soße abschmeckt. Er inszeniert das ganz große Kino als Erinnerung an einen Film, der selbst noch größeres Kino war.

Spielberg beginnt mit Drohnenflügen über Geröll, Ruinen und das Lincoln Center, auf Schildern steht „Slum Clearance“, schon bald fliegen Fäuste, und Officer Krupke spricht ein ironisches Machtwort. Alles ist herrlich brillant und dekorativ verschwitzt, alles drängt nach Aufbruch, doch Spielberg verweilt genussvoll im Gestern: Es war einmal in Amerika. Dass in New York seit damals irrsinnig viel passiert ist, bleibt draußen. Möglicherweise kann man dem Film seine Retro-Haltung gar nicht vorwerfen.

Darstellerisch ist sie fantastisch gelungen. Die jungen Talente sind agil, fesch frisiert, beweglich, stimm- und sprungstark, sie tragen tolle Tollen auf dem Haupt, wirbeln an Häuserwänden entlang und legen tanzend jeden Straßenverkehr lahm; in dieses malerisch marode New York der gefühlten 50er Jahre, auferstanden aus Kulissen, könnte man sich glattweg verlieben. Natürlich auch in Marias Hinterhof-Wohnung, zu der man sich an Leinen mit feuchter Wäsche vorbei über die Feuerleiter vorarbeiten muss. Für den Tanzboden einer Basketball-Halle wurde 1a-Parkett der gehobenen Preiskategorie verlegt. Der Mambo ist dort übrigens keine Sekunde Dirty Dancing, auch wenn gern aus der Kniekehle gefilmt wird.

Spielberg wirkt aber wie gefesselt vom Stoff und von der Vorlage. Seine „West Side Story“ steht bei allem Tempo auf der Stelle. Sie entwickelt eine ungeheure Energie darin, nicht vom Fleck zu kommen. Die Aufmärsche der Boys und Girls auf der Straße sind herrlich vital („America“), aber immer auch kunstfertig. Die Aggressionen wirken nie elementar, sondern choreografisch, fast so komödiantisch wie manche Fechtszene in Kostümfilmen. Nur in „Rumble“ spürt man die Raserei, zu der Hass führen kann.

Zu Bernsteins lasziv-raffinierter Musik passt das allerdings großartig, und weil der Venezolaner Gustavo Dudamel dirigiert, ein Topstar im internationalen Dirigentenzirkus, sind die klirrende, von sägenden Trompeten gezackte Ostküsten-Virtuosität des Klangs und der lässige Latin-Sound in einer Hand kompetent vereint. Wie dem Presseheft mit viel Mühe zu entnehmen ist, spielen die New Yorker Philharmoniker. Neben Dudamel ist offenbar auch der Arrangeur David Newman mit dirigentischen Aufgaben betraut.

Ja, die Musik rettet Spielberg. Die Balkon-Szene mit dem epischen „Tonight“-Duett gelingt musikalisch hinreißend – und dankbar ist der Hörer, dass in Rachel Zegler (Maria) und Ansel Elgort (Tony) keine hochtoupierten Opernstimmen singen (wie Kiri Te Kanawa und José Carreras in Bernsteins eigener Aufnahme), sondern junge Leute fast frisch von der Academy.

Spielberg klimpert selbstverständlich mit allen Anschlagsarten auf der Gefühlsklaviatur, sehr behutsam intoniert er jedoch eine wundervolle Nuance am Rande der Geschichte. Als Valentina tritt jene bald 90-Jährige Rita Moreno auf, die vor 60 Jahren bei Robert Wise noch die Rolle der Anita spielte. Ihr trostlos-visionäres „Somewhere“ gegen Ende ist einer der wenigen Momente, in denen Spielbergs Film erwacht und das Gestern mit dem Heute sprechen lässt. 

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