Späte Nachricht von der Jugendliebe

"Vom Ende einer Geschichte" erzählt in ruhigem, melancholischem Ton von einem Mann, der sich seiner Vergangenheit stellen muss.

Je älter wir werden, umso wichtiger werden unsere Erinnerungen. Wenn die Gegenwart ihren Ereignischarakter verliert, gewinnen die Geschehnisse der Vergangenheit zunehmend an Bedeutung. Aber Erinnerungen sind trügerisch.

Nicht weil das Gedächtnis den Dienst versagt, sondern weil wir im Erinnern unsere eigene Geschichte formen. Unangenehmes wird verdrängt, vergessen oder zurechtgebogen. Das Erlebte wird sortiert, selektiert, in Erzählenswertes und Verschwiegenes unterteilt. In seinem Roman "Vom Ende einer Geschichte" hat Julian Barnes dieses Phänomen in ebenso kompakter wie packender Form beschrieben. Nun hat sich der indische Regisseur Ritesh Batra, der vor fünf Jahren mit seiner melancholischen Romanze "The Lunchbox" international reüssierte, sich des Stoffes angenommen. Kein leichtes Unterfangen angesichts der introspektiven Erzählhaltung der Vorlage.

Jim Broadbent ("Another Year") spielt den geschiedenen Pensionär Tony, der einen Laden für gebrauchte Leica-Kameras betreibt und ein zufriedenes, ereignisarmes Leben führt. Eines Tages flattert ihm ein Anwaltsschreiben ins Haus, welches ihn in Kenntnis setzt, dass die Mutter seiner Jugendliebe Veronica ihm ein Tagebuch vererbt hat. Die Aufzeichnungen stammen von seinem alten, verstorbenen Schulfreund Adam, in den sich Veronica damals verliebte, was zur Trennung von Tony führte. Das alles ist ein halbes Jahrhundert her, versetzt den alten Mann jedoch in Unruhe, zumal Veronica wie Tony von der Anwältin erfährt - die Herausgabe des Tagebuchs verweigert. Zum ersten Mal beginnt Tony seiner Ex-Frau Margaret (Harriet Walther), mit der ihn immer noch ein vertrautes, freundschaftliches Verhältnis verbindet, von Veronica zu erzählen. Zunächst nehmen die verklärten Erinnerungen an eine Jugendliebe und die enge Freundschaft zu Adam in Rückblenden Gestalt an. Aber je länger das juristische Ringen um das Tagebuch dauert, umso deutlicher wird, dass Tonys Gedächtnis die Ereignisse nur in geschönter Form gespeichert hat.

Erst die Konfrontation mit Veronica (Charlotte Rampling) bringt die schmerzhafte Wahrheit und die dramatischen Folgen seiner jugendlichen Eifersucht zum Vorschein. Batra erzählt diese Geschichte über die schwindende Kraft der Verdrängung in einem scheinbar sanften Erzählton, verschränkt Gegenwart und Rückblenden elegant miteinander und hat mit Broadbent einen Hauptdarsteller gewählt, der als älterer Herr alle Sympathien auf sich zieht.

Aber der gemütliche, narrative Flow ist trügerisch, denn mit dem Fortschreiten der Geschichte wird klar, dass es hier um sehr ungemütliche Themen geht. Um Ereignisse, die nicht wieder gut zu machen sind. Um Schuldgefühle, die mit aller Kraft verdrängt werden. Um männlichen Narzissmus, der erfüllten Liebesbeziehungen im Wege steht. Um die blinden Flecken der eigenen Vergangenheit, die blind für die Glücksfindungsmöglichkeiten der Gegenwart machen. Das alles köchelt hier auf kleiner Flamme und ohne große dramatische Gesten vor sich hin. Statt auf Posen setzt Batra auf Genauigkeit in der Beobachtung des Alltäglichen und der Charakterisierung der Figuren. Dabei kann er auf ein herausragendes Ensemble zurückgreifen. Broadbent und die fabelhafte Harriet Walther spielen die Vertrautheit und die kritische Distanz eines einvernehmlich geschiedenen Ehepaares ungeheuer nuancenreich aus, und Charlotte Rampling, die erst sehr spät im Film ihren ersten Auftritt hat, kann in nur einem Blick das Leid und die Verachtung eines ganzen Lebens bündeln.

Wieder einmal beweist das britische Kino, dass es für seine hervorragende Schauspielerriege im fortgeschrittenen Alter immer wieder Rollen mit der notwendigen Tiefe findet. Daran könnten sich Hollywood, aber auch das deutsche Kino ein Beispiel nehmen.

Vom Ende einer Geschichte, Großbritannien 2017 - Regie: Ritesh Batra, nach einem Roman von Julian Barnes, mit Jim Boroadbent, Harriet Walther, Charlotte Rampling, 108 Min.

(RP)
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